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Selma und Siegfried Süss-Schülein, Eberhardstr. 2

 
Ernst Grube (Foto Birgit Mair)

Rede von Ernst Grube, Überlebender der Shoah, anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen am 15. März 2023 in Stuttgart für seine Tante Selma Süss-Schülein und seinen Onkel Siegfried Süss-Schülein

Sehr geehrte Anwesende,
ich danke Ihnen für die Einladung zur Verlegung von Stolpersteinen für meine Tante Selma und meinen Onkel Siegfried Süss-Schülein. Das ist meine erste Verlegung für Verwandte, bei der ich Pate bin und anwesend sein kann.
Selma Meyer, geb. am 9. Juni 1908 in Reichelsheim im Odenwald, war eine der drei Schwestern meiner Mutter. Sie heiratete Siegfried Süss-Schülein, geboren am 31.03.1903 in Wallerstein bei Nördlingen am 20.Dezember 1939. Die beiden lebten hier in Stuttgart in der Eberhard Straße 2, dann mussten sie ins Judenhaus Im Kaisemer 25.
Persönlich kennengelernt habe ich sie wohl kaum. Vielleicht waren sie bei einem der wenigen Besuche, die ich zusammen mit meiner Mutter bei den Großeltern in Reichelsheim gemacht habe, da. Nach meinem fünften Lebensjahr hatte ich durch die Verfolgung unserer Familie keine Gelegenheit mehr zu Verwandtenbesuchen.
Ich bin erst in den letzten 13 Jahren durch Besuche der Deportationsorte, der Ghettos und Vernichtungsstätten, an die die 3 Schwestern meiner Mutter mit ihren Familien verschleppt worden waren, erneut mit dem Schicksal meiner Verwandten befasst.
Bis dahin hatte ich aus dem Nachlass meiner Mutter nur ein Foto von Siegfried und Selma Süss-Schülein und ein Dokument des Amtsgerichts Stuttgart vom 25.11.1949, in dem steht: „Die Eheleute Süss-Schülein wurden am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und sind von dort nicht zurückgekehrt. Rückkehrer können sich an sie erinnern, haben sie jedoch Mitte 1942 nicht mehr gesehen, nehmen daher an, dass sie bei der Aktion am 26.3.1942, bei der 1700 Menschen erschossen worden sind, ebenfalls ums Leben kamen.“

Nach unserer Befreiung im Ghetto Theresienstadt am 8. Mai 1945 und der Rückkehr nach München am 26. Juni hatte meine Mutter, Clementine Grube, begonnen ihre drei Schwestern und deren Familien zu suchen. Vier Jahre lang hoffte sie auf Lebenszeichen, schrieb Briefe an Suchdienste, jüdische Verwaltungsstellen und reiste in die ehemaligen Wohnorte, um über andere Menschen dort etwas zu erfahren. In der Familie war diese Suche immer präsent. Im Rückblick wird mir klar, dass die Gedanken unserer Mutter unablässig zwischen Hoffnung auf Lebenszeichen und Befürchtung von Todesgewissheit kreisten. Bis vom Amtsgericht Stuttgart 1949 alle Gesuchten „für tot erklärt“ worden waren.

Am 1.Dezember 1941 mussten Tante Selma und mein Onkel Siegfried Süss-Schülein vom Sammellager zur Deportation auf dem Stuttgarter Killesberg zum Nordbahnhof gehen und wurden in einem Zug mit über 1000 Juden in das von Deutschland besetzte Riga im Reichskommissariat Ost, in Lettland deportiert.
Im abgeriegelten Rigaer Ghetto waren zu diesem Zeitpunkt ungefähr 30000 lettische Juden unter elenden Bedingungen auf engstem Raum inhaftiert. Das Ghetto war maßlos überfüllt.

Die Richtlinien des Eichmann Referats vom 31. Oktober 1941 für die „Abschiebung von deutschen Juden in das Reichskommissariat Ostland“ sahen als Zielorte Minsk und Riga vor. Mehrere ursprünglich für Minsk bestimmte Deportationszüge wurden nach Riga umgeleitet. Daher organisierte die NS Verwaltung die Ermordung der einheimischen, lettischen Juden am Rigaer Blutsonntag. Etwa 15.000 Menschen wurden am 30. November 1941, 12.500 Menschen am 8. und 9. Dezember in den nahen Wäldern von Rumbula erschossen.
Lettische SS mordete unter Aufsicht der deutschen SS.
So wurde in diesen Tagen für die nächsten Opfer, die reichsdeutschen Juden, Platz geschaffen.
Die nächsten vier eintreffenden Transporte mit fast 4.000 Personen aus Nürnberg, Stuttgart, Wien, Lübeck wurden auf einem leerstehenden, nahe gelegenen Gutshof – später „Lager Jungfernhof“ genannt – notdürftig untergebracht.
Darunter war auch der Zug mit über 1000 württembergischen Juden aus dem Lager am Killesberg in Stuttgart, aus dem meine Tante Selma und ihr Mann Siegfried am 1.12.41 vom Nordbahnhof aus deportiert worden waren.
Insgesamt waren nun fast 4000 Menschen in diesem Lager Jungfernhof bei Riga zusammengepfercht. Es fehlten die einfachsten Voraussetzungen. Ein Überlebender schrieb über die Unterkunft: „Es gab keine Türen und keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach war auch nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune.“
Während des harten Winters 1941/1942 starben zwischen 800 und 900 Menschen. Sie erfroren, starben an Mangelernährung, Erschöpfung oder den sich bald ausbreitenden Krankheiten. Ab Januar 1942 wurden die Kranken zum Erschießen abtransportiert.

Am Morgen und Nachmittag des 26. März 1942 wurden bei der sog. Aktion Dünamünde zwischen 1700 und 1800 Menschen aus dem Lager Jungfernhof, die nicht mehr voll Arbeitsfähigen, bis auf ca. 450 Menschen, abtransportiert. Im Wald von Biķernieki, wurden sie im Laufe des Tages erschossen und in Massengräbern verscharrt. Darunter war mit großer Wahrscheinlichkeit auch Tante Selma.
Unter Leitung von Offizieren der Sicherheitspolizei mordete das lettisch geführte Kommando Arājs.

Vor einigen Jahren sind meine Frau und ich bzgl. Siegfried Süss-Schülein auf das Todesdatum 22.12.1944 und als Ort KZ Dachau gestoßen. So begann die Suche erneut.
Im Zugangsbuch des KZ Dachau wird ein Transport vom 29.07.1944 ab KL Kauen (Litauen) mit 1800 Häftlingen für 1.8.1944 registriert. Darunter Siegfried Süss Schülein mit der Nummer 86194.
Siegfried wurde zusammen mit 1800 KZ-Häftlingen am 29.07.1044 über das KZ Stutthof in den Lagerkomplex Kaufering deportiert. Heute nehmen wir an, dass Siegfried im KZ-Lager Kaufering II bei Igling war. Wegen seines angegebenen Berufs als Maurer ist davon auszugehen, dass Siegfried überwiegend bei den Bauarbeiten des Großbunkers Diana II Sklavenarbeit leisten musste. Die Oberbauleitung hatte die Organisation Todt, die Ausführung die Philipp Holzmann AG.

Im Bericht der amerikanischen Kriegsverbrecher Untersuchungskommission zum Dachauer Prozess steht, dass von allen Dachauern KZ-Außenlagern die 11 Lager des Landsberg- Kaufering Komplexes die schlimmsten waren. Wegen der äußerst harten Bedingungen, der Gräuel, des Hungers und der Krankheiten.
Über die Hälfte der über 23.000 in Kaufering gefangen gehaltenen jüdischen Häftlinge wurden im Prozess der „Vernichtung durch Arbeit“ ermordet.
Das bedeutete, dass Onkel Siegfried noch weiter lebte nach der Ermordung seiner Frau Selma Süss-Schülein. In einer qualvollen Zeit in KZs in der Umgebung von Riga, wahrscheinlich KZ Kaiserwald, dann im KZ Kaunas, weiter über das KZ Stutthof wurde er ins Dachauer KZ Außenlager Kaufering verschleppt.
Tante Selma war nicht mal 34 Jahre alt, als sie ermordet wurde. Die Odyssee meines Onkel Siegfried dauerte über drei Jahre, in denen er durch Zwangsarbeit, Erschöpfung, Erniedrigung, schlimmste Ausbeutung in verschiedenen Ghettos und Konzentrationslager vernichtet wird: Mit 41 Jahren vernichtet durch Arbeit für die Wehrmacht und die deutsche Kriegsführung, für Firmen, wie AEG, Holzmann… und für die SS, die alle gut daran verdienten und so ihre grausame Macht über die Geschundenen und andere noch maßlos steigern konnten.
Den Unterlagen nach starb Siegfried im KZ-Lager Kaufering II am 22. Dezember 1944.

Wo genau er begraben ist oder ob überhaupt? Das weiß ich nicht.
Millionen von den Nazis ermordete Menschen haben kein Grab.
Menschen, die in den Gaskammern ermordet wurden, die in den Wäldern Russlands, der Ukraine, Belarus und anderen von der Wehrmacht eroberten und geraubten Ländern, wie Tante Selma in Lettland in Bikernieki vor den Gräben erschossen wurden, die sie zuvor noch ausheben mussten.

Es gibt kein Grab
Auch nicht für meine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, die 1942 von Darmstadt und Stuttgart nach Piaski und Izbica ins deutsch besetzte Generalgouvernement deportiert worden waren. Wie haben sie ihre letzten Wochen und Tage verbringen müssen, ehe sie dort in Majdanek, Sobibor, Belzec oder in Massenerschießungen ermordet wurden?
Sie leben in unserer Erinnerung.
Deshalb verlegen wir heute die Stolpersteine für meine Tante Selma und meinen Onkel Siegfried Süss-Schülein.

Die Inschriften auf den Stolpersteinen für Selma und Siegfried Süss-Schülein lauten:

HIER WOHNTE
SELMA
SÜSS-SCHÜLEIN
GEB. MEYER
JG. 1908
DEPORTIERT 1941
RIGA-JUNGFERNHOF
ERMORDET

HIER WOHNTE
SIEGFRIED
SÜSS-SCHÜLEIN
JG. 1903
DEPORTIERT 1941
RIGA-JUNGFERNHOF
KOWNO / KAUNAS
1944 DACHAU / KAUFERING II
ERMORDET 22.12.1944

Die Verlegung der Steine für Siegfried Süss-Schülein und seine Frau Selma Süss-Schülein erfolgte auf Initiative von Heinz und Hildegard Wienand aus Stuttgart-Feuerbach