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Erinnerungskultur in Stuttgart: Jetzt sind wir dran, etwas zu tun

Artikel aus den Stuttgarter Nachrichten
Jan Sellner 24.02.2024 – 07:00 Uhr


Schüler des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums engagieren sich für Erinnerungskultur. Foto: Archiv/Lichtgut/Max Kovalenko

Erinnerungskultur lebendig halten – das ist leichter gesagt als getan. Zumal es immer weniger Zeitzeugen gibt. Es braucht daher eine gemeinsame Anstrengung. Ein Kommentar von Redakteur Jan Sellner.

Beeindruckend vielgestaltig präsentiert sich in Stuttgart seit geraumer Zeit das, was man Erinnerungskultur nennt. Die vielen Stuttgarter, die sich dafür freiwillig engagieren, sowie die Stadt selbst und das Land haben ihren Anteil daran, dass Stuttgart auch in dieser Hinsicht als Kulturstadt heraussticht.
Keine Woche ohne Veranstaltungen, Begegnungen, Rundgänge. In der vergangenen Woche wurde der „Kabelattentäter“ um Theodor Decker gedacht, die am 15. Februar 1933 eine Wahlkampfrede Hitlers in Stuttgart sabotierten. Die Woche davor versammelte sich eine große Zahl Interessierter im Erinnerungsort Hotel Silber, wo es um die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen ging. Von Stefan Lode, Nebenklagevertreter in etlichen NS-Prozessen, erfuhren die Zuhörer, dass es aller Voraussicht nach keine weiteren Prozesse mehr geben wird – allein aus Altersgründen der Täter. Die Strafverfolgung, die im Nachkriegsdeutschland spät eingesetzt hat, gelangt an ein absehbares Ende. Das gilt auch für Zeitzeugengespräche mit NS-Opfern. Die Zeit dafür verrinnt. Oder wie es die 102-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer unpathetisch sagt: „Ich bin nicht mehr lange da. Jetzt seid ihr dran.“

Erinnerungsarbeit ist Demokratiearbeit
Umso drängender stellt sich die Frage, wie Erinnerung in Zukunft weitergegeben wird. Es braucht darauf eine überzeugende Antwort, weil Erinnern nicht beiläufig geschieht, sondern tatsächlich Arbeit macht. Diese Arbeit geht über das reine Gedenken hinaus. Sie versteht Geschichte als steten Impuls für Wachsamkeit und ist im Kern damit immer auch Demokratiearbeit. Mirjam Zadoff, die Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, betonte am Montag bei einem Auftritt im Stuttgarter Literaturhaus, dass aus der Kultur des Erinnerns eine Kultur der Verantwortung erwachsen sollte. Samt Courage und Widerständigkeit. Aktueller geht es nicht.
„Jetzt seid ihr dran!“ bedeutet auch, sich Gedanken über neue Formen der Ansprache zu machen. Erinnerungsarbeit muss künftig ohne Zeitzeugen auskommen und dennoch so gestaltet sein, dass junge Leute emotional erreicht werden. Bemühungen dazu gibt es durchaus. Ein Beispiel ist der Versuch, die Arbeit der Gedenkstätten via Tiktok zu vermitteln. Mehrere Hundert Videos sind in dem bei Jugendlichen beliebten Videoportal dazu bereits erschienen. Auch Museen öffnen mehr und mehr multimediale Fenster, durch die man auf die Geschichte blickt.

Theater Lokstoff spielt dort, wo Stolpersteine liegen
Reale Begegnungen sind jedoch nicht zu ersetzen. Auch hier gibt es vielversprechende neue Formate. In Stuttgart bietet das Theater Lokstoff eine sehr unmittelbare Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an. Seine „Familienabende“ spielen in Wohnungen, vor denen ein Stolperstein an Verfolgte und Ermordete des Nazi-Regimes erinnert. Auch das Programm „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ setzt auf persönliche Begegnungen. Ebenso Scora („Schools opposing Racism and Antisemitism“), eine vom Kultusministerium unterstützte Initiative. Im September 2024 wird sie in Stuttgart 400 Jugendliche aus vier Ländern – Israel, Indien, USA und Deutschland – zusammenführen. Ob daraus so etwas wie eine Erinnerungsjugendkultur entstehen kann?
Überhaupt kommt den Schulen große Bedeutung zu. Sie können Geschichte zum Gemeinschaftserlebnis machen, wie es das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium oder das Karls-Gymnasium praktizieren – mit erfreulichem Echo. Auch an anderen Schulen und in anderen Schularten findet das statt. Solche Schülerprojekte verdienen mehr Aufmerksamkeit. Es reicht jedoch nicht, Erinnerungsarbeit zu delegieren. Im Sinne Margot Friedländers sind wir „alle dran“, etwas für eine lebensnahe Erinnerungskultur zu tun – sie zielt auf das Heute.