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Arbeitergesangsverein „Freiheit“: Am Botnanger Sattel wartete die SA

Artikel in der Stuttgarter Zeitung 
Theresa Schäfer 25.06.2024 – 14:50 Uhr 


Die Gesangbücher der Botnanger „Freiheit“. Foto: Theresa Schäfer

An einem Julisonntag 1933 will der Arbeitergesangsverein „Freiheit“ einen letzten Ausflug machen. Doch der endet im berüchtigten Polizeigefängnis „Büchsenschmiere“. Eine heute 98-jährige Botnangerin erinnert sich.

„Ausflug – auf den Heuberg“. So lautet die Überschrift eines kleinen Artikels im „Stuttgarter Neuen Tagblatt“ vom 18. Juli 1933. Sie klingt harmlos, wenn man nicht weiß, was der Heuberg bei Stetten am kalten Markt in der Nazizeit war: Ein Konzentrationslager nämlich. In dürren Worten wird in dem Artikel geschildert, was am „letzten Sonntag“ geschah: Vier Ausflugsbusse mit Botnanger Kommunisten habe die „Politische Polizei“ am Botnanger Sattel angehalten und aufs Revier gebracht. Die Männer seien von dort in „Schutzhaft“ auf den Heuberg gekommen. Der Artikel endet mit einer kaum verhohlenen Drohung: „Es kann bei diesem Anlass die Öffentlichkeit nur nochmals dringend davor gewarnt werden, sich für verbotene und aufgelöste Organisationen in irgendeiner Form mittelbar oder unmittelbar zu betätigen.“

Die Familie war „links angehaucht“ – wie die meisten in der Arbeitersiedlung. 
In einem dieser Busse saß Sophie Hübner. Das ist nicht ihr richtiger Name, doch die Botnangerin ist sehr zurückhaltend, nimmt sich selbst nicht wichtig und möchte deshalb nicht mit ihrem echten Namen in der Zeitung stehen. Sie war 1933 ein Mädle von sieben Jahren, heute ist Hübner 98. Doch sie hat den 16. Juli noch in Erinnerung, als sie mit ihren Eltern und Großeltern in den Ausflugsbus stieg. Ihre ganze Familie gehörte zum Arbeitergesangsverein „Freiheit“, der sein Vereinsheim ganz hinten in der Sommerhaldenstraße hatte, dort, wo heute die Kleintierzüchter ihre Kaninchen und Hühner halten. Die Hübners seien „links angehaucht“ gewesen, wie die meisten in der Arbeitersiedlung Westheim in der heutigen Beethovenstraße, wo man Sozialist oder Kommunist war, aber für die Nazis, die 1933 die Macht übernommen hatten, wenig übrig hatte. Sophies Mutter war Näherin beim Kaufhaus Breuninger, ihr Vater arbeitete für einen Maschinenbauer in der Böheimstraße, der Strickmaschinen herstellte. Ihre Freizeit verbrachten die Hübners bei der „Freiheit“, sangen Volksweisen, manchmal auch die „Internationale“ oder „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“.

Die KPD wurde direkt nach dem Reichstagsbrand verboten
Wohin der Ausflug an jenem Sonntag gehen sollte, weiß Sophie Hübner nicht mehr. Aber ein letztes Hurra der „Freiheit“ sollte die Fahrt ins Blaue wohl werden, „man hatte noch Geld übrig“, das man hernahm, um die Ausflugsbusse zu mieten. Die Vereinsmitglieder wussten ja, dass sie als Linke vorsichtig sein mussten, dass ihr Chor, solange die Nazis an der Macht waren, im Verborgenen überwintern würde müssen. Die Nationalsozialisten hatten die KPD bereits direkt nach dem Reichstagsbrand im Februar verboten, Vereine, die der Partei nahestanden, wurden zerschlagen.

Walter Häbich und Georg Wohlleben in Botnang: Die widerständigen Nachbarn aus Westheim

Im roten Botnang, das nur halb im Scherz „Klein-Moskau“ genannt wurde, wähnte man sich unter Gleichgesinnten. Doch irgendjemand muss die Pläne der „Freiheit“ verraten haben. Denn als die vier Omnibusse den Botnanger Sattel erreichten, „stand da schon die SA“, erinnert sich die 98-Jährige. Statt ins Grüne fuhren die Busse zur „Büchsenschmiere“, dem berüchtigten Polizeigefängnis in der Büchsenstraße. Einen ganzen Tag mussten die Familien dort ausharren. „Wenn man auf die Toilette musste, hat einen ein Polizist mit aufgepflanztem Bajonett begleitet.“


Das „ Stuttgarter Neue Tagblatt“ berichtete – unter der zynischen Überschrift „Ausflug – auf den Heuberg“. Foto: StZN/Schäfer

Am Abend seien die Frauen und Kinder schließlich freigelassen worden, die Männer kamen auf den Heuberg. Im Frühjahr 1933 hatten die Nationalsozialisten in den Gebäuden eines ehemaligen Kinderheims das Lager eröffnet, um ihre politischen Gegner dort einzusperren. Auch bekannte Regimegegner waren auf dem Heuberg inhaftiert: Kurt Schumacher zum Beispiel, der nach dem Zweiten Weltkrieg SPD-Vorsitzender wurde. Arnulf Klett, von 1945 bis 1975 Stuttgarter Oberbürgermeister. Oder Fritz Bauer, der als Generalstaatsanwalt in Hessen in den 1950er und 60er Jahren dafür kämpfte, die Täter des „Dritten Reichs“ vor Gericht zu stellen.

Bitterkalte Nächte auf dem Heuberg
Die NS-Presse schlachtete den Vorgang weidlich aus: „Die Botnanger waren von jeher besonders höfliche Menschen. (…) Dort haben nämlich 43 Marxisten sich selbst das Auto bestellt und bezahlt, mit dem sie auf den Heuberg fuhren“, kommentierte der Stuttgarter NS-Kurier hämisch.

Sophie Hübners betagter Großvater wurde nach zwei Tagen heimgeschickt, ihr Vater musste einen knappen Monat auf dem Heuberg bleiben. Damit kamen sie noch gut weg: Andere Botnanger blieben über ein Jahr in Haft. Was die Männer anschließend vom Heuberg erzählten? Vor allem eines: Bitterkalt seien die Sommernächte hoch oben auf der Alb gewesen.

„Das ging nicht spurlos an uns vorbei“, erinnert sich Sophie Hübner an den Sonntag, der ihre ganze Familie statt ins Grüne in die „Büchsenschmiere“ brachte. „Wir haben während der ganzen Hitlerzeit vorsichtig sein müssen“, sagt die 98-Jährige. Dass die Gestapo zur Hausdurchsuchung kam, daran gewöhnte sich die junge Sophie irgendwann. Ihr Onkel Paul und ihre Tante Else arbeiteten als Kommunisten im Untergrund, wurden verhaftet und in Dachau und Gotteszell eingesperrt. Dass ihre Familie alles andere als regimetreu war, behielt Sophie tunlichst für sich, als sie später zu den Jungmädels musste und irgendwann zum BDM. „Die, bei denen man aufpassen musste, was man sagt, hat man irgendwann gekannt.“

Heinrich Rexer überlebte nicht
Einer der Botnanger, die an diesem Julisonntag verhaftet wurden, überlebte das Lager nicht: Heinrich Rexer. Er wurde vom Heuberg ins Katharinenhospital gebracht. Dort starb der 23-Jährige am 29. August – vermutlich an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung. Die Wurst, die Rexer im KZ Heuberg habe essen müssen, sei verdorben gewesen, erzählte man sich in Botnang. Die NSDAP-Ortsgruppe warnte die Leute im Flecken einige Wochen nach Rexers Tod in einer offiziellen Bekanntmachung: Wer dieses „Gerücht“ von der „Wurstvergiftung“ weiterverbreite, dem werde es schlecht ergehen.


In der Furtwänglerstraße in Botnang erinnern Stolpersteine an Heinrich Rexer und seine Mutter Maria. Foto: StZN/Schäfer

Für Heinrich Rexer wurde 2010 in der Furtwänglerstraße, die früher Feuerbacher Straße hieß, ein Stolperstein verlegt. Dafür haben Jörg und Ingeborg Gaiß von der Stolpersteininitiative in Botnang seine Geschichte recherchiert. Vor der Hausnummer 18 sind zwei Stolpersteine ins Trottoir eingelassen. – Einer für Heinrich Rexer – und einer für seine Mutter Maria, die im Jahr 1941 im hessischen Hadamar im Zuge des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms ermordet wurde.