Spuren von Anna Ausübel, ihrem Sohn Sally und ihrer Familie
Galizien gehörte bis 1918 zu Österreich-Ungarn. Heute ist es eine Landschaft im Süden Polens und im Westen der Ukraine, getrennt durch eine Staatsgrenze und die Außengrenze der Europäischen Union. Galizien war immer am Rand, das prägte auch seine Bewohner. Um 1900 lebten hier mehr als 7 Millionen Menschen. Rund 10 Prozent waren Juden, die in ihrem „Schtetl” wohnten: In vielen Städten hatten sie eigene Stadtteile, in Kleinstädten lebten sie fast ganz unter sich.
Namhafte jüdische Persönlichkeiten stammen aus Galizien, etwa der Religionsphilosoph Martin Buber, der Regisseur Billy Wilder oder der Literat Joseph Roth, der 1927 über seine Heimat schrieb: „Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten lässt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit […] Es hat seine eigne Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz der Geschmähten.“
Die galizischen Juden waren meist streng orthodox-religiös und lebten nach der Tradition ihrer Vorväter. Anders als in den Städten gehörten sie im ländlichen Bereich als Handwerker, Kleinhändler und Arbeiter überwiegend den unteren sozialen Schichten an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte das starke Wachstum der jüdischen Bevölkerung, was beengte Wohnverhältnisse und eine Verschlechterung der Erwerbsmöglichkeiten bewirkte, zur Abwanderung zahlreicher Familien in größere Orte, nach Deutschland oder in die USA. Den entscheidenden Anstoß dafür gab oftmals auch das nicht immer konfliktfreie Zusammenleben mit Nichtjuden.
Ulanow ist ein galizischer Marktflecken, 230 Kilometer von Krakau entfernt am Zusammenfluss von San und Tanew gelegen. Es gehört heute zur polnischen Woiwodschaft Karpatenvorland. Hier lebten um 1900 rund 3500 Einwohner, 40 Prozent davon waren Juden. Wenige Jahre zuvor hatte hier auch der Handelsmann Kalman Ausübel mit seiner Frau Anna, geborene Knopf, gewohnt. Kalman Ausübel, auch Kelman genannt, war am 28. März 1868 im nahen Rudnik geboren, seine Frau Anna am 20. November 1865 im nahen Huta Deregowski. Fünf ihrer acht Kinder kamen in Ulanow zur Welt: Sohn Isidor, die Zwillinge Siegfried und Heinrich (1896), Tochter Martha (1897) und schließlich am 20. Juni 1901 Sohn Salomon, der nur Sally genannt wurde.
Kam Sally bei einem Besuch in der alten Heimat zur Welt oder kam Anna Ausübel erst später nach Stuttgart? Ihr Mann Kalman Ausübel ist jedenfalls bereits seit 1899 im Stuttgarter Adressbuch nachweisbar. Damals wohnte er in der Kanalst. 20, später kurz in der Lindenstr. 13 und schließlich in der Silberburgstr. 134, Hinterhaus 1. Stock, wo auch die Töchter Regine (1904) und Fanny (1907) sowie Sohn Baruch (1905) zur Welt gekommen sein dürften.
“Ostjuden”, seit rund 1895 in Stuttgart nachweisbar, brachten ihre jüdische Tradition aus der Heimat mit, richteten sich streng nach den religiösen Speisegesetzen und hielten die Geschäfte am Sabbat und anderen Feiertagen geschlossen. Mit der angepassten Religionsausübung ihrer deutschen Glaubensgenossen und Gottesdiensten in Deutsch konnten sie wenig anfangen.
Sie gründeten daher einen eigenen Betverein, den Verein “Linath Hazedek” (“Stätte der Wohltätigkeit”). Der Betsaal war bis Anfang 1928 in der Geißstr.1. Dann fand sich ein größerer Betsaal mit geeigneten Nebenräumen für Bibliothek und Lesesaal im Hinterhaus Kasernenstr. 13, heute Leuschnerstraße. Das Geld dafür brachten die ostjüdischen Familien unter großen Opfern auf.
Kalman Ausübel soll im Vorstand von “Linath Hazedek” gewesen sein. Und er soll den Verein „Bikkur Cholim” begründet haben. „Bikkur Cholim” ist die ethische und heilige Pflicht des Krankenbesuchs, dementsprechend wollte der Verein Kranke betreuen, ihnen helfen und sie besuchen. Notleidende und Hilfesuchende fanden bei der Familie Ausübel ohnehin eine offene Tür.
Die Familie Ausübel soll gutbürgerlich gewesen sein. Kalman Ausübel hatte als Handelsmann und Eierhändler ein gutes Einkommen. Die Söhne standen als Kaufmann (Baruch), Provisionsreisender (Sally) oder mit Vertretungen (Heinrich und Siegfried) auf eigenen Beinen. Der älteste Sohn Isidor war im Ersten Weltkrieg gefallen.
1921 konnte Kalman Ausübel das Haus Schloßstr. 54 erwerben. Sally und Baruch unterstützten die Eltern nun. Die Familie lebte bescheiden im Erdgeschoss, in dem Sally im Januar 1926 einen Spezialversand für Herrenartikel, Trikotagen und Aussteuerwaren gründete. Im August 1928 wandelte er ihn in eine offene Handelsgesellschaft um, an der auch Bruder Baruch mit 50 Prozent beteiligt war. Das Spezialversandgeschäft Gebrüder Ausübel Stuttgart für Herrenwäsche, Trikotagen, Aussteuer-Artikel, Herren- und Damenkonfektion erwarb sich schnell einen guten Ruf und wurde Vertragsfirma der Württembergischen Beamtenbank und des Deutschen Beamtenwirtschafsbundes, Bezirksausschuss Stuttgart. Zwei Autos waren für die Firma unterwegs, die fünf Mitarbeiter im Außendienst und im Verkauf hatte.
Hitlers Machtergreifung veränderte das Leben der Familie Ausübel schnell, denn das Versandgeschäft ging nach der Machtergreifung 1933 sofort zurück, da viele Beamte es sich nicht mehr leisten konnten oder wollten, bei einer jüdischen Firma zu kaufen. Sally machte weiter, auch als die OHG im März 1938 gelöscht wurde. Ende 1938 musste er dann ganz aufgeben, Baruch war schon im Januar 1935 nach Palästina ausgewandert, wohin ihm seine Schwester Regine folgte.
Kurz danach starb am 13. April 1935 Kalman Ausübel und wurde auf dem Israelitischen Teil des Pragfriedhofs begraben.
Siegfried Ausübel schließlich, der im Kaufhaus Tanne in Stuttgart als Kaufmann arbeitete, wurde am 28. Oktober 1938 von der Gestapo verhaftet und nach Polen abgeschoben, wo er in das Arbeitslager Zbandzin kam. Wie alle Mitglieder der Familie hatte er bis 1919 einen österreich-ungarischen Pass und bekam danach einen polnischen. Im Juni 1939 durfte er befristet nach Stuttgart zurück, um seine Angelegenheiten abzuwickeln. Seine Ehefrau Berta und der Sohn Herbert hatten da bereits die Anordnung erhalten, Deutschland zu verlassen Er ging mit ihnen deshalb Ende Juli 1939 nach Italien. Am 11. Juni 1940, am Tag nach dem Kriegseintritt Italiens, wurden sie von der Polizei verhaftet und nach Kalabrien in das Lager Terramonti – Baracken in Sumpfgelände – gebracht. Im September 1943 konnten sie über Vichy-Frankreich und Portugal in die USA flüchten, wo Heinrich Ausübel und seine Schwester Fanny bereits seit 1940 waren.
Zurück in Stuttgart blieben Martha Fortgang, geb. Ausübel. Sie wurde zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn Hermann am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und ermordet. In der Böblinger Str. 27 B erinnern Stolpersteine an sie.
Salomon Ausübel, genannt „Sally” wurde am 11. September 1939, kurz nach Kriegsausbruch, mit vielen Gegnern des NS-Regimes verhaftet und am 13. September auf den Hohenasperg gebracht, von wo er am 26. September 1939 als “Politischer Jude” in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert wurde. Er erhielt die Häftlingsnummer 6651. Am 13. März 1942 stellte die SS einen Arbeitstransport von Häftlingen zusammen und deportierte sie in das KZ Ravensbrück. Das Leben von Sally Ausübel fand am 26. Juni 1942 im Männerkonzentrationslager Ravensbrück ein Ende.
Anna Ausübel hatte Ende 1938 zur Ablösung der Kredite, vielleicht auch in der Absicht doch auszuwandern, das Haus Schloßstr. 54 verkauft, konnte dort aber wohnen bleiben. Am 25. März 1942 musste sie ihre Wohnung aufgeben und wurde zwangsweise in ein jüdisches „Wohnheim“ in Tigerfeld einquartiert. Die Asche ihres Sohnes Sally wurde ihr dorthin nachgesandt. Sie durfte die Urne anscheinend beerdigen, auch wenn nicht mehr feststellbar ist wo. Anna Ausübel war nun sehr betrübt, ihr fehlte jeder Lebenswille. Sie wurde am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie nicht mehr essen wollte und vermutlich am 9. September 1942 starb.
Der Stolperstein wurde am 30. September 2008 verlegt.
Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West
Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg