Menü Schließen

Stolpersteine in Stuttgart-West: Das Radiohören bezahlten sie mit dem Leben

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Torsten Schöll – 05.08.2024 – 15:21 Uhr

Anton Hummler

Max Wagner

Max Wagner (links) und Anton Hummler. Fotos: Vor 35 Jahren: Vollstreckt. Niemals vergessen! Eine Dokumentation der VVN – Bund der Antifaschisten Baden-Württemberg e.V., Stuttgart o. J.  
Die beiden Kommunisten Anton Hummler und Max Wagner waren Teil einer Gruppe von Arbeitern aus Stuttgart-West, die versuchten, ihren Teil zum Widerstand gegen das NS-Regime beizutragen. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – die Menschen hinter den Namen“.

Den Brief an den Reichsführer der Hitlerjugend, mit dem Heinz Hummler um das Leben seines Vaters bittet, unterzeichnet der Zwölfjährige mit „Heil Hitler“. Es ist der verzweifelte Versuch eines Kindes, den Vater aus den Fängen der Nazis zu befreien. Wenn der heute 92-Jährige gefragt wird, warum er das Gnadengesuch mit der verhassten Grußformel unterzeichnet hat, antwortet er immer gleich: „Ich hätte auch fünf Mal ‚Heil Hitler‘ geschrieben, wenn ich damit das Leben meines Vaters gerettet hätte.“

Das Schreiben des jungen Hummler ist Teil des Lern- und Gedenkorts Hotel Silber. Dort, im ehemaligen Hauptquartier der Stuttgarter Gestapo, wurde auch Anton Hummler vor mehr als 80 Jahren brutal verhört. Der überzeugte Kommunist war wie sein Freund Max Wagner Teil einer Gruppe von Antifaschisten aus dem Stuttgarter Westen, die im Radio verbotene Auslandssender abhörte und die Nachrichten wohl auch heimlich weiterverbreitete. In welchem Umfang, sagt sein Sohn Heinz Hummler, sei nicht mehr bekannt. Für ein Todesurteil des Reichsgerichtshofs reichte es jedoch allemal.

Erst 60 Jahre nach der Hinrichtung von Anton Hummler konnte der Sohn den Abschiedsbrief seines Vaters lesen
Der 2019 verstorbene Stuttgarter Historiker und Journalist Wolfgang Kress hat bereits vor fast zwei Jahrzehnten der Geschichte und dem Schicksal von Anton Hummler und Max Wagner nachgespürt. Für die beiden Opfer des Nazi-Regimes wurden daraufhin 2007 vor den Gebäuden Bebelstraße 43 und 29 zwei Stolpersteine verlegt.

Kress war es auch, wie Heinz Hummler erzählt, der in den Unterlagen des Bundesarchivs den letzten Brief entdeckte, den sein Vater am Tag seiner Hinrichtung im Zuchthaus in Brandenburg geschrieben hat, der die Familie aber damals nicht erreichte. Noch heute ist Hummler erbost darüber, dass er und seine beiden Schwestern ohne die Recherchen des Journalisten nichts von dem Brief erfahren hätten.

Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen: Alle Porträts der Serie

Der 36-jährige Inhaftierte schreibt darin in schöner Handschrift seine letzten Gedanken auf, die seiner Frau und den Kindern in Stuttgart gelten: „Soeben erhalte ich die Nachricht, dass mein und euer Gnadengesuch abgelehnt wurde und ich jetzt sterben muss. Es tut mir noch in letzter Stunde furchtbar weh, dass ich dich mit den Kindern verlassen muss. Behaltet mich jedoch in euren Herzen und vergesst mich nie“, lauten einige Zeilen aus dem Brief, den Heinz Hummler und seine Frau Heidi mehr als 60 Jahre später zum ersten Mal lesen konnten.

Aufgeflogen war der Kreis um die beiden Kommunisten Hummler und Wagner, weil die Gestapo einen Spitzel in die Gruppe einschleusen konnte. Die beiden Nachbarn und ursprünglich auch Arbeitskollegen bei Bosch kannten sich wohl schon vor 1933, wie Kress in seinen Ausführungen schreibt. Wagner begann bereits vor Ausbruch des Krieges mit einem hochwertigen Radioempfänger Auslandssender abzuhören.

„Offiziell“, erzählt Heinz Hummler, „traf sich die Gruppe zum Binokel spielen bei Wagner.“ Später erfährt der Sohn, dass im Keller ihres Wohnhauses in der Bebelstraße 43, damals Moltkestraße, unter den Kohlen wohl eine Abziehmaschine versteckt war, mit der Blätter vervielfältigt werden konnten.

Die Kinder wurden zur Sicherheit im Dunkeln darüber gehalten, was die Väter taten und worüber sie sprachen. Dass der Vater anders dachte als viele andere, wurde dem jungen Heinz zum ersten Mal klar, als er als Mitglied des Deutschen Jungvolks eine Uniform benötigte. Wie Hummler sich erinnert, lehnte der Vater das rundheraus ab.

Anton Hummler und Max Wagner hatten einen ähnlichen Werdegang
Der am 12. Februar 1908 im schweizerischen St. Gallen geborene Anton Hummler kam 1927 als Maschinenarbeiter nach Stuttgart zu Bosch und qualifizierte sich bald zum Maschineneinsteller weiter. Während der Weltwirtschaftskrise war Hummler zeitweise arbeitslos, bevor er wieder bei Bosch eine Anstellung fand. Bereist 1929 schloss er sich dem Arbeitersportverein „Rote Sportler“ an, 1930 dem „Kampfbund gegen den Faschismus“ und der KPD.

Einen ähnlichen Werdegang durchlebt Max Wagner. Er wurde am 25. Oktober 1899 in Oberesslingen geboren. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er an der Westfront, wurde verwundet und kam schließlich in englische Gefangenschaft. Zuerst als Steindrucker und Hilfsarbeiter tätig, fand er 1936 als Ankerwickler bei Bosch Anstellung, wurde aber bald krankheitsbedingt teils erwerbsunfähig. Auch er war in einem Arbeiter-Sportverein aktiv und trat 1930 in die kommunistische Partei ein.

Über den Sport, wo er den Berliner Heinz Bogdan kennenlernt, trat Hummler in den 1930er-Jahren in Kontakt zu Widerstandsgruppen in der Hauptstadt. Wagner, ein gewisser Emil Erath sowie Hummler besuchten im Juni 1943 Bogdan in Berlin. Bogdan bat die Stuttgarter Freunde, einen jüdischen Zahnarzt in die Schweiz zu schmuggeln. Emil Erath erklärte sich bereit, die Aufgabe zu übernehmen, womit das Schicksal des Arztes besiegelt ist.

Denn der Spitzel, den die Gestapo in die Stuttgarter Gruppe infiltriert hat, war genau dieser Emil Erath. Es sei, so schreibt der Journalist Kress, bei den Behörden schon im Herbst 1940 bekannt gewesen, „dass verschiedene ehemalige Kommunisten des westlichen Stadtteiles in Stuttgart den Besuch eines gleichgesinnten Genossen aus Berlin empfangen haben, von dem angenommen wurde, dass seine Reise nach Stuttgart dem illegalen Aufbau einer kommunistischen Organisation diene“.

Die Verhaftungen all jener, die Erath aus der Widerstandsgruppe kennt, lässt nicht lange auf sich warten: Die Gestapo schlägt in Stuttgart, Berlin und Hildesheim zu. Nach Hildesheim war Anton Hummler im Oktober 1942 versetzt worden, um dort in einem Boschbetrieb Maschinen für Zwangsarbeiter einzustellen.

Heinz Hummler, der heute mit seiner Frau in Stuttgart-Stammheim lebt und selbst Betriebsratsvorsitzender in einem Industrieunternehmen in Bad Cannstatt war, erinnert sich, dass am 22. September 1943, am Tag der Verhaftung seines Vaters, die Gestapo morgens um fünf Uhr auch im Wohnhaus der Familie in der Moltkestraße läutete. „Sie durchsuchten die Wohnung nach Unterlagen und Belastungsmaterial“, erzählt der 92-Jährige. Die Mutter sei dabei ohnmächtig geworden. Die Abziehmaschine im Kohlenkeller fand die Gestapo aber nicht, wie ein Heinz Hummler erzählt.

Nach seiner Inhaftierung in Hildesheim kommt der Vater bald ins Stuttgarter Polizeigefängnis in der Büchsenstraße sowie auch zu Verhören in die Gestapo-Zentrale im Hotel Silber. Als seine Frau blutverschmierte Kleidung zum Waschen abholt, entdeckt sie in einer Socke einen Kassiber. Auf dem kleinen Zettel hat ihr Mann notiert: „Erath ist der Verräter.“ „Meine Mutter verteilte nachts heimlich diese Information in den Briefkästen von einigen Bekannten“, erzählt der Sohn. Wahrscheinlich rettet der Mut der Frau einige Leben.

Am 4. August, kurz nach dem Attentat auf Hitler, ergeht vor dem Volksgerichtshof in Potsdam das Urteil gegen Hummler und Wagner, die inzwischen im Zuchthaus Brandenburg einsitzen. „Der Prozess gegen meinen Vater dauerte keine 20 Minuten“, sagt Hummler. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung verurteilt das Unrechtsregime beide zum Tod durch Enthaupten. Am 25. September 1944 werden Wagner, Hummler und weitere 16 Insassen hingerichtet. Heidi Hummler sagt, das Blut, das dabei floss, sei zur Weiterverwendung in Lazaretten aufgefangen worden.

Ein vernachlässigtes Grab
An dieser Stelle endet die Geschichte, die Heinz Hummler auch nach 80 Jahren erzählt, als wäre sie gestern geschehen, noch nicht ganz. 2017 schrieb die Stadt Stuttgart an Heinz Hummler, dass das Grab des Vaters auf dem Waldfriedhof aufgelöst werde. Wie der 93-Jährige berichtet, regte sich daraufhin Widerspruch im Stuttgarter Gemeinderat und auch bei der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber. Weil der Erhalt der Grabstätte im öffentlichen Interesse sei, müsse sie auf Kosten der Stadt erhalten werden.

Obwohl die Stadt daraufhin angekündigt hatte, die Pflege für das Grab des Opfers des NS-Regimes zu übernehmen, wurde das Grab offenbar seit Jahren nicht mehr gepflegt: Ende Juni dieses Jahres entdecken die Kinder von Heinz Hummlers Schwester auf ein völlig verwildertes Grab. Eine Gedenktafel, die neben dem eigentlichen Grabstein auf dem Boden liegt, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu lesen.

Filmporträt
Mit Heinz Hummler, dem Sohn von Anton Hummler, ist 2016 unter der Regie von Harald Stingele und den Stolperstein-Initiativen in Stuttgart ein Filmporträt entstanden. Zu sehen ist er unter: http://frage-zeichen.org/video/heinz-hummler/