„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.
Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland
Anna Theurer wurde am 25. Juni 1908 in Stuttgart geboren. Vater Heinrich war Schreiner und kam aus Schwieberdingen, die Mutter Sofie Karoline, geb. Ehle, aus Stetten im Remstal. Wenige Wochen vor der Geburt hatten die Eltern eine Wohnung im 5. Stock der Seyfferstraße 41 bezogen. Kurz zogen sie ein Jahr später in die Senefelderstraße 31, 3. Stock, um schließlich 1913 im Erdgeschoss der Spittastraße 6 ein jahrzehntelanges Heim zu finden. Anna Theurer bekam 1909 und 1919 einen Bruder sowie 1911 eine Schwester. Ein weiterer Bruder starb 1913 kurz nach der Geburt.
Als Schülerin soll sie fleißig und ehrgeizig gewesen sein und immer versucht haben, bei den Ersten zu sein. Zuhause habe sie sich um ihre Geschwister mütterlich besorgt gezeigt. Nach der Schule ging sie als Hausmädchen in Stellung. Zwar hatte sie teilweise Probleme mit den Familien, doch eine davon war überzeugt, dass sie eine „tüchtige Hausfrau“ werden würde. Anna Theurer besuchte dann die Handelsschule des Marienheims und arbeitete rund zwei Jahre lang als Kontoristin bei dem Immobilien- und Hypothekengeschäft Eisele und Cie. in der Königstraße 43A. Sie galt als fleißig und pünktlich. Als Folge der Weltwirtschaftskrise wurde ihre Stelle Ende 1930 jedoch abgebaut, nicht einmal den schuldigen Lohn von 390 RM konnte man auszahlen. Sie fand keine Stelle mehr, war nur einmal noch für mehrere Wochen als Aushilfe beschäftigt.
Unter diesem Zustand litt sie anscheinend sehr, zumal es auch in der Familie Spannungen gab: Der Vater hatte nach drei Jahren im Ersten Weltkrieg eine Verwundung an der rechten Hand erlitten und konnte seinen Beruf nicht mehr ausführen, war ebenfalls lange arbeitslos. Anna Theurer hatte auch anderes Pech: Weil sie an Schuppenflechte erkrankt war, konnte sie nicht mehr ins Baden gehen, was sie sehr unglücklich machte. Bekannt ist, dass sie evangelisch getauft und sehr religiös war. Noch an Weihnachten 1932 sang sie mit dem Kirchenchor in der Pauluskirche.
Seit ihrer Arbeitslosigkeit veränderte sich Anna Theurer in ihrem Wesen. Sie fühlte sich beispielsweise zurückgesetzt, weil ein ihr versprochenes neues Kleid nicht gekauft werden konnte, da die Schwester Stoff für ihr Gesellenstück als Schneiderin brauchte, beneidete die Schwester um ihren Bräutigam und fürchtete sich, vergiftet zu werden. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1932 wurde Anna Theurer alles zu viel, sie legte sich ins Bett und verweigerte jede Nahrung. Anfang Januar 1933 kam der Arzt und stellte eine Gemütserkrankung fest sowie Gefahr für sie selbst. Er schickte sie ins Bürgerhospital, von wo sie wegen diagnostizierter “Schizophrenie” im Februar in die Göppinger Heilanstalt Christophsbad überwiesen wurde. Bis zum November blieb sie dort, durfte dann aber wieder nach Hause. Sie besuchte nun einen Wirtschaftskurs und arbeitete zuhause. Doch sie war nur als „nicht ganz geheilt” entlassen worden. Anfang Februar 1934 kam sie erneut ins Bürgerhospital und von dort wieder nach Göppingen. Zwei Monate später war sie in der Ravensburger Anstalt Weissenau.
Eigentlich sollte sie auch hier schon nach wenigen Monaten wieder entlassen werden. Die Mutter, die im Juli 1934 ihre Tochter besucht hatte, bat Anfang August in einem Brief um Beschleunigung des Verfahrens, da sie ihrer Tochter versprochen habe, sie in vier Wochen nach Hause zu holen. Sollte dies nicht geschehen, würde die Tochter kein Vertrauen mehr haben. Doch die Welt war verändert, die Nationalsozialisten hatten Deutschland fest im Griff. Adolf Hitler forderte schon 1925 in seinem Buch “Mein Kampf „die Ausschaltung der „Minderwertigen” von der Fortpflanzung. Als Ausfluss der NS-Rassenideologie hatte der Deutsche Reichstag am 14. Juli 1933 das sog. Erbgesundheitsgesetz („Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses)“ beschlossen. So stellte der Anstaltsdirektor beim Ravensburger Erbgesundheitsgericht den Antrag, Anna Theurer unfruchtbar zu machen. Am 17. August 1934 erlaubte dies das Gericht.
Der Vater wollte als gesetzlicher Verfahrenspfleger der Tochter wenigstens, dass dies in Stuttgart geschieht, doch hätte er die Kosten für ihre Überführung bezahlen müssen. Deshalb legte er am 10. Oktober 1934 Berufung gegen die Zwangssterilisation in Ravensburg ein, wobei er diese hauptsächlich damit begründete, dass es in den Familien der Eltern keine Erbkrankheiten geben würde. Allein die wirtschaftlichen Verhältnisse seien schuld an ihrer Erkrankung. Die Geschäftsstelle des Amtsgerichts Ravensburg, wo das Erbgesundheitsgericht angesiedelt war, stellte daraufhin fest, dass Anna Theurer aus Weissenau erst entlassen werden kann, wenn sie zwangssterilisiert sei. Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig, da der Beschluss noch nicht formell zugestellt wurde. Man habe zugewartet, „in der Annahme, dass Sie auch, wie es in der Regel die Pfleger tun, der Beschleunigung halber auf formelle Zustellung verzichten werden.” Seine Beschwerde sei ohnehin sinnlos und würde die Entlassung der Tochter nur verzögern.
Der Vater ließ nicht locker. Am 12. November 1934 befasst sich in Stuttgart das Erbgesundheitsobergericht mit der Angelegenheit und stellte fest, dass die Erbkrankheit durch die Anstaltseinweisungen 1933 und 1934 zweifelsfrei festgestellt sei. „Dabei mag es wohl sein, dass die Erkrankung, wie ihr Vater geltend macht, durch wirtschaftliche Sorgen und andere unliebsame Erlebnisse ausgelöst worden ist. Aber solche Sorgen bleiben niemandem ganz erspart und werden von Tausenden ertragen, ohne dass sie deswegen geistige Störungen zeigen. Hierzu kommt es eben nur, wenn eine Krankheitsanlage besteht. Und diese Anlage ist vererblich und gefährdet die Nachkommen der Kranken, weil sie nach den Erfahrungen der Wissenschaft mit Wahrscheinlichkeit an ähnlichen, möglicherweise noch schlimmeren Störungen leiden und dadurch sich und ihren Volksgenossen zur Last fallen werden. Deshalb muss die Tochter des Beschwerdeführers auf Nachkommen verzichten.”
Nachdem der Gerichtsbeschluss rechtskräftig war, wurde Anna Theurer am 12. Januar 1935 unfruchtbar gemacht. Im Mai 1935 durfte sie wieder nach Hause. Wenig mehr als fünf Monate konnte sie noch in der Spittastraße 6 verbringen, bis sie am 25. Oktober 1935 erneut in das Bürgerhospital und von dort in die Anstalt Christophsbad kam. Am 17. April wurde sie in die Weinsberger Heilanstalt Winnenthal verlegt. Und am 10. Dezember 1940 fuhren die berüchtigte „Grauen Busse”, deren Scheiben kein Durchschauen erlaubten, in Winnenthal vor. Anna Theurer wurde zusammen mit anderen Patienten in die Busse gebracht und in die angebliche „Heilanstalt“ Grafeneck transportiert. Kurz nach ihrer Ankunft wurde sie dort noch am selben Tag mit Gas getötet. Im “Dritten Reich” wurde ein behinderter Mensch als Last dargestellt, als jemand, der froh sein kann, wenn er nicht geboren wird. Heute ist das schlicht Unrecht. So stellt die seit 2009 auch in Deutschland als Recht geltende Behindertenrechts-Konvention der Vereinten Nationen fest:
Artikel 23 “Achtung der Wohnung und der Familie’’
(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen, um zu gewährleisten, dass
a) das Recht aller Menschen mit Behinderungen im heiratsfähigen Alter, auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses der künftigen Ehegatten eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, anerkannt wird;
b) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung anerkannt wird und ihnen die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden;
c) Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten.
Am 12. November 2013 wurde für Anna Theurer ein Stolperstein verlegt.
Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West
Quellen: Aktenbestand Gesundheitsamt und Bürgerhospital im Stadtarchiv Stuttgart.
Ein großer Dank gilt an dieser Stelle Elke Martin für ihre umfangreichen Recherchen über die Stuttgarter “Euthanasie”-Opfer.