Das Jüdische Schwesternheim
Franziska Oppenheim, Jahrgang 1883, stammte aus dem bayrischen Rödelsee und trat nach ihrer Ausbildung in Berlin am 15. August 1906 den Dienst in Stuttgart an.
Elsa Erlebacher, Jahrgang 1886, stammte aus Bretten und trat nach ihrer Ausbildung in Köln am 1. März 1910 den Dienst in Stuttgart an.
Elsa, genannt Erika, Landsberger, Jahrgang 1882, stammte aus Liebau in Schlesien. Da sie bereits im Besitz einer staatlichen Anerkennung war, frischte sie ihre Kenntnisse in Köln nur auf und trat am 15. November 1912 den Dienst in Stuttgart an.
Erna Strauß, Jahrgang 1887, stammte aus Bruchsal und trat nach ihrer Ausbildung in Köln am 1. Januar 1918 den Dienst in Stuttgart an.
Recha Schmal (1900-1977) arbeitete 1940/41 im Jüdischen Schwesternheim, sie überlebte Theresienstadt.
Sie waren für das „Jüdische Schwesternheim Stuttgart e.V.“ zu Krankenschwestern ausgebildet worden, um entsprechend dessen Leitmotto „Auf dem Wirken der Nächstenliebe steht die Welt“ (Psalm 89,9) Kranke ohne Ansehung ihres Standes und ihres Glaubens selbstlos zu pflegen, und wurden am Ende unbarmherzig von Stuttgart aus in den Tod geschickt. Das Gebäude ihres Schwesternheims steht noch und noch immer im Dienst der Gesundheit, nur der Davidstern, der einst das Dach des Vorbaus zierte, stolz über die jüdische Gleichberechtigung und über die Normalität im Zusammenleben von Menschen verschiedenen Glaubens, wurde ebenso wie die vier Schwestern ein Opfer von Rassismus und Intoleranz.
Die Stuttgart-Loge des Bnai Brith, einem vor allem karitativ und kulturell wirkenden jüdischen Männerbund, beschloss im September 1900, wenige Monate nach ihrer Gründung, junge jüdische Frauen zu „Krankenpflegerinnen“ ausbilden zu lassen. Langfristig war als Ausbildungsstätte für jüdische Krankenschwestern an ein jüdisches Krankenhaus gedacht, das Kranken ohne Ansehung ihres Standes und ihres Glaubens offenstehen sollte. Die Krankenpflege gehörte seit jeher zu den wichtigsten Geboten des israelitischen Glaubens, erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch an die Ausbildung berufsmäßiger, jüdischer Krankenschwestern gedacht, als Ehrenpflicht, um die selbstlosen Dienste von christlichen Schwestern an jüdischen Kranken, durch das Anerbieten gleicher Dienste zu vergelten, und um jüdischen Frauen damit einen neuen Beruf zu eröffnen.
Die Finanzierung war bald durch Spenden gesichert, so dass Anfang 1901 mit dem Berliner „Verein für jüdische Krankenpflegerinnen“ ein Vertrag über die 2 ¼ jährige Ausbildung von Stuttgarter Schwesternschülerinnen geschlossen werden konnte. Später fand die Ausbildung auch in Köln und an städtischen Krankenhäusern in Stuttgart statt.
Am 1. April 1905 nahm unter Aufsicht des Verwaltungsrats des Vereins, das „Jüdische Schwesternheim Stuttgart e. V.“ mit drei Schwestern, geleitet von der Oberschwester, seine Arbeit auf. Allein in den ersten neun Monaten führten die Schwestern 1152 Krankenbesuche bei 119 Kranken aus und 637 Pflegetage bei 42 Kranken von Stuttgart bis Ulm. 612 der Krankenbesuche waren bei 54 Nichtjuden und 94 der Pflegetage bei 10 Nichtjuden. Außerdem hatte eine Schwester für die Stuttgart-Loge, was jedes Jahr geschah, bedürftige Kinder mehrere Wochen in die Sommererholung begleitet. Die behandelnden Ärzte zeigten sich voller Lob über die Arbeit der Schwestern.
Für die Pflegebesuche und Pflegetage stellte das Jüdische Schwesternheim keine Rechnungen aus, damit sich Bedürftige nicht als Almosenempfänger fühlten. Um deren Haushalt nicht zu belasten, war es den Schwestern auch nicht erlaubt, Mahlzeiten in den Wohnungen der Kranken einzunehmen. Dagegen wurden von besser Gestellten Spenden erwartet.
Die Organisation des Jüdischen Schwesternheims hatte ihr Vorbild in einer Diakonissenanstalt. Die hart arbeitenden und bescheiden lebenden Schwestern bekamen neben freier Kost und Logis monatlich ein Taschengeld, dafür übernahm das Schwesterheim ihre Altersversorgung. Austritte, etwa wegen Heirat, waren möglich. Das Schwesternheim finanzierte sich durch Spenden von jüdischen Gemeinden und Einrichtungen in Stuttgart und im Umland sowie durch Jahresbeiträge der Vereinsmitglieder. Eine Anerkennung ihrer Arbeit waren Beiträge der württembergischen Königin Charlotte und der Stadt Stuttgart. Die Eisenbahn gewährte Ermäßigungen, die Straßenbahn Freikarten.
Als Schwesterheim diente anfänglich eine Wohnung in der Heusteigstr. 43a, später dann in der Neckarstr. 15. Jede Schwester hatte ihr eigenes Zimmer, das größte Zimmer wurde das gemeinsame Wohn- und Esszimmer. Mit Spenden waren eine kleine Bibliothek und ein Klavier angeschafft worden. Den Schwestern wurden regelmäßig Vorträge über die ethischen Grundsätze des Judentums zur geistigen Festigung und über medizinische Themen zur Weiterbildung angeboten. Das Chanukkafest im Dezember feierten sie mit den Verwaltungsratmitgliedern und deren Familien und wurden dabei der Tradition entsprechend reich beschenkt.
Als es sich abzeichnete, dass für bald 12 Schwestern ein eigenes Haus nötig wurde, waren es wieder große und kleine Spenden, die im September 1913 den Erwerb des Grundstücks Dillmannstr. 19 erlaubten. Dank einer billigen Hypothek der Württembergischen Invaliden- und Altersversicherung war im Frühjahr 1914 Baubeginn. Der Umzug war für den 1. Oktober geplant, doch da tobte der Erste Weltkrieg.
Ein 1908 vom Schwesternheim aufgestellter Leitsatz lautete: „Im Kriegsfall sollen tunlichst alle Schwestern dem Vaterland ihre Kräfte zur Verfügung stellen.“ Schon von den ersten Kriegswochen an führten die Oberschwester und neun Schwestern, darunter Franziska Oppenheim und Elsa Erlebacher, das Festungshilfslazarett I in Breisach mit 230 Mannschafts- und 24 Offiziersbetten. Der württembergische König und der badische Großherzog dankten bei Besuchen den Schwestern für ihre Aufopferung. Später kamen die Schwestern nach Serbien, in ein Seuchenlazarett nach Frankreich, und dann nach Ungarn und Rumänien.
Der Neubau in Stuttgart war auf das Angebot des Vereins hin von der Militärbehörde als Lazarett übernommen worden. Der Israelitische Frauenverein richtete das Haus mit 30 Betten ein, die Betreuung übernahmen drei Schwestern, darunter Erika Landsberger, ab 1918 auch Erna Strauß. Die medizinische Aufsicht hatte in erster Linie Dr. med. Max Hommel, der dafür vom württembergischen König das Wilhelmskreuz erhielt, und 1943 in Theresienstadt ums Leben kam. Als das Lazarett am 30. April 1919 aufgelöst wurde – die Vergütung der Heeresverwaltung hatte zu keiner Zeit auch nur annähernd die Betriebskosten gedeckt -, waren vom Jüdischen Schwesternheim e.V. insgesamt 14.370 Pflegetage im Heeresdienst für Soldaten jedweder Religion geleistet worden.
Nachdem 1919 wegen einer Typhusepidemie nach Pforzheim entsandte Schwestern wieder zurück waren, kam langsam der Alltag zurück, die Pflegetage erreichten wieder Vorkriegsniveau, wobei die Pflege von nichtjüdischen Kranken ab-, die jüdische Pflege im Umland dagegen zunahm. Besondere Anforderungen brachten die Inflationsjahre, die vor allem zum Verlust des Pensionsfonds für die Schwestern führten. Der laufende Betrieb konnte nur durch neue Mitglieder und besondere Spenden finanziert werden, etwa von dem nach New York ausgewanderten Laupheimer Hollywood Pionier Karl Lämmle und von Herzogin Charlotte, der früheren Königin.
Beim 25-jährigen Bestehen im Jahr 1930 gehörten dem Jüdischen Schwesternheim zehn Schwestern an, die Leitung hatte nun Oberin Franziska Oppenheim. In 25 Jahren waren neben den Pflegetagen im Heeresdienst und den jährlichen Ferienaufenthalten mit Kindern rund 49.300 Krankenbesuche und rund 37.000 Pflegetage geleistet worden.
Hitlers Machtergreifung ließ das Jüdische Schwesternheim nicht unberührt. Die Stadt Stuttgart strich sofort jedwede Unterstützung. Die Pflege wurde Armen und Kranken zwar weiterhin „ohne Unterschied des Glaubens und der Abstammung“ angeboten, doch „arische“ Ärzte durften ihnen keine Kranken mehr zuweisen. Finanzielle Probleme brachte die Abwanderung und Verarmung vieler jüdischer Glaubensgenossen, auch die Zahl der Schwestern nahm durch Auswanderung ab. Trotzdem versuchte man, Normalität zu zeigen: Schwester Erika Landsberger trat 1936 aus Altersgründen in den Ruhestand. Schwester Elsa Erlebacher versah mit großem Elan die ambulante Krankenpflege und Schwester Erna Strauß leitete die Kindererholung im Schwarzwaldheim Mühringen.
Die sog. „Reichskristallnacht“ 1938 wurde zum Anfang vom Ende. Wie Schwester Ruth Rieser (1892-1984), die 1916 in das Jüdische Schwesternheim eingetreten war, berichtet, suchten in dieser Nacht viele Menschen im Schwesternheim Obdach, doch am anderen Morgen musste das Haus auf Befehl der Polizei geräumt werden. Belästigungen und Schikanen bestimmten nun den Alltag. Das Heim wurde bald zum Massenquartier für ältere jüdische Mitbürger. 1941 musste es innerhalb von 12 Stunden geräumt werden. Die alten Menschen und die Schwestern wurden in das „Jüdische Altersheim“ in der Heidehofstraße gebracht, danach in ein Massenlager nach Dellmensingen bei Ulm, wo das Essen knapp und die Behandlung entsprechend war. Am 22. August 1942 kamen die Bewohnerinnen und Bewohner in das Sammellager auf den Stuttgarter Killesberg und wurden von dort mit über 1000 alten Menschen, eingepfercht in Viehwagen, nach Theresienstadt transportiert.
Versprochen wurde ein Altersheim, doch das Ziel war der überfüllte Dachboden einer Kaserne, mit Dachluken statt Fenstern. Auf dem blanken Steinboden waren nur ein Kissen und eine Wolldecke erlaubt. Die Schwestern versuchten zu helfen, doch Mangelernährungen und Krankheiten waren stärker. Theresienstadt war der Wartesaal zum Tod. Viele starben bereits hier und fast täglich gingen Tag Transporte nach dem Osten.
Die Schwestern Ruth Rieser und Recha Schmal überlebten Theresienstadt. Sie sind als Einzige vom Jüdischen Schwesternheim aus dem KZ zurückgekommen. Die mit ihnen nach Theresienstadt deportierten Schwestern Franziska Oppenheim, Elsa Erlebacher und Erika Landsberger wurden am 12. Oktober 1944 in den Tod nach Auschwitz geschickt, Schwester Erna Strauß war bereits am 1. Dezember 1941 zum Sterben nach Riga gekommen.
Recha Schmal wurde am 29. September 1900 in Laupheim geboren. Nach ihrem Besuch der Realschule Laupheim entschied sie sich 1917 für eine Ausbildung in Säuglings- und Krankenpflege. In Stuttgart ausgebildet, legte sie 1924 an der Universitätsklinik Freiburg im Breisgau ihr Staatsexamen ab. Nachdem sich ihr Bruder Dr. Simon Schmal 1930 als Arzt in Bad Cannstatt niedergelassen hatte, half sie ihm als Sprechstundenhilfe, bis er 1936 heiratete.
Mehrmals wechselte sie den Wohnsitz, zunächst zog sie nach Berlin, später nach Frankfurt am Main, wo sie bis ins Jahr 1940 im jüdischen Krankenhaus arbeitete. Es waren Rechas Ausbildung, ihre Kenntnisse und ihre Erfahrungen als Krankenschwester, die ihren Lebensweg in den dunklen Zeiten des NS-Regimes zu großen Teilen mitbestimmen sollten. Angesichts der politischen Zustände bemühte sie sich bis ins Jahr 1942 immer wieder, in die USA oder nach Kuba zu emigrieren, doch vergebens.
Gegen Ende 1940 zog sie nach Stuttgart, um näher bei ihrer Mutter zu sein und arbeitete im Jüdischen Schwesterheim in der Dillmannstraße 19. Hier wurden Häusliche Krankenschwestern ausgebildet, die ihre Privatpatienten in und um Stuttgart versorgten. Ende 1940 wurde im geräumigen Gebäude in der Dillmannstraße 19 ein Zwangsaltersheim eingerichtet. Noch bis Ende 1941 hat sie dort gewohnt. Ab Dezember 1940 bis August 1942 arbeitete Recha Schmal als „Krankenschwester bei der Jüdischen Kultusgemeinde Stuttgart“.
Für nur kurze Zeit lebte und arbeitete sie im Altenheim in der Heidehofstraße 9, bevor sie am 13. Februar 1942 als Hausschwester ins Zwangsaltenheim Schloss Eschenau eingewiesen wurde. Von dort wurde sie unter der Transport-Nr. XIII / 1-379 am 22. August 1942, zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert. Das von der NS-Herrschaft zynisch als „Vorzeigelager“ deklarierte Theresienstadt stand unter strenger NS-Kontrolle, musste sich zudem selbst verwalten. Unter diesen eingeschränkten Umständen kam ihr als Krankenschwester eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe zu. Krankenpflege und Gesundheitsdienst konnten nur mit Mühe und unter Aufbietung aller Kräfte betrieben werden Für Recha Schmal waren es lange und entbehrungsreiche Jahre, die sie in Theresienstadt vom 22.8.1942 bis zum 5.2.1945 verbringen sollte. Ihre Mutter, die 69-jährig am 30.09.1943 im Lager an Unterernährung verstarb, hatte sie noch pflegen können.
Als sich das Ende des Krieges und die Kapitulation der Nazi-Diktatur abzeichnete, versuchten die Nazi-Größen alles, um ihre menschenverachtenden Verbrechen zu verharmlosen, um so die zu erwartenden Strafen zu mildern. SS-Führer Heinrich Himmler nutzt alte Beziehungen und nimmt mit dem Schweizer Bundespräsident Jean-Marie Musy Kontakt auf, bietet ihm einen Tausch „KZ-Insassen gegen Geld und/oder Kriegsmaterial“ an. Man verständigt sich auf zwei Transporte zu je 1500 Personen aus Theresienstadt in die Schweiz. Nur ein Transport kam zustande, unter den Insassen war Recha Schmal. Sie gelangten nach zwei Tagen Bahnfahrt am 7.2.1945 in die Schweiz, in die Freiheit. Recha Schmal hatte 2 ½ Jahre Theresienstadt überlebt. Ein Schweizer Freund aus noch guten alten Tagen nimmt sofort Kontakt zu ihr auf. Die Schweizer Behörden gestatten ihr für ein paar Tage einen Besuch bei der Familie. Mit ihnen nimmt sie ersten Abstand von einer dunklen Zeit.
Danach verbrachte sie in zwei Vertriebenenlagern ihre Zeit, zunächst ein halbes Jahr lang im Flüchtlingsheim Les Avants in St. Gallen; danach für kurze Zeit im Fremdenheim De La Paix in Lugano. Schon am 24.9.1945 stellt sie den Schweizer Behörden einen Antrag auf Beschäftigung und findet im Jüdischen Krankenhaus in Basel eine Stelle als Krankenschwester.
Auf der Suche nach einem geregelten Leben gelingt es ihr mit Hilfe ihre Bruders Simon, am 28.6.1946 in die USA auszuwandern. Dort, im New Yorker Stadtteil Ithaca, beginnt für sie im Heim ihres Bruders endlich ein neues, ein geordnetes Leben. Sie verbessert ihr Englisch und studiert US-Amerikanische Geschichte. Am örtlichen Krankenhaus fand sie schließlich als Krankenschwester viele Jahre lang Arbeit und Auskommen. Im Haus und bei der Erziehung der Neffen und Nichten hilft sie mit. Die Gartenarbeit war ihr ein und alles. Der Literatur ebenso wie der klassischen Musik galt ihr besonderes Interesse. Reisen zu Freunden und Verwandten führten sie nach Südafrika, nach Israel und in die Schweiz. Ihr ganzes Leben lang pflegte sie Briefkontakte mit Greta Gideon, eine Freundin aus Laupheimer Kinderzeiten. Als ihre Schwägerin Ende der 1960er Jahre verstarb, gab sie ihre Arbeit auf, übernahm die Hausarbeit und später die Pflege ihres Bruders. Recha Schmal stirbt am 8. Juli 1977 und ist in Ithaca/NY beigesetzt.
Der Neffe von Recha Schmal, Steven Schmal, sprach bei der Verlegung (Foto: Ute Hechtfischer)
Für Recha Schmal wurde am 18. September 2024 in der Dillmannstraße 19 ein Stolperstein verlegt.
Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West
Recherche und Text zu Recha Schmal: Jupp Klegraf, Initiativkreis Stolpersteine für Stuttgart-Nord in der Geschichtswerkstatt Stuttgart Nord e.V.