Der Kaufmann Siegfried Isidor Guttmann, geboren am 21. Mai 1879 in Bük/Posen lebte bis 1934 in Singen, wo er an drei Firmen beteiligt war:
• seit 1908 Saly Guttmann & Co OHG, Damen- und Herrenkonfektion und Schuhwaren gemeinsam mit seinen Brüdern Saly und Berthold Guttmann
• Seit 1920 gemeinsam mit Bruder Saly Guttmann an der Firma Gebr. Guttmann OHG, Großhandel mit Strümpfen. Die Firma am 7.8.1934 aufgelöst, das Geschäft ging über auf seine Frau Sophie Guttmann, geb. Dreifuß und wurde im selben Jahr nach Stuttgart verlegt.
• Seit 1928 Gesellschafter und Geschäftsführer bei Süddeutsche Wollwerke G.m.b.H. in Singen. Diese Firma musste im Oktober 1930 mit einem Vergleich schließen, am 30.12.1930 erfolgte der Verkauf aller Guttmann-Anteile am Stammkapital, Siegfried Guttmann schied aus der Geschäftsführung aus
Siegfried Guttmann heiratete die am 22. Januar 1887 in Altdorf geborene Sofie Dreifuss, die 1909 nach Singen zog. Das Ehepaar bekam zwei Kinder: Tochter Lieselotte Guttmann wurde 1913, Sohn Hans-Julius Guttmann wurde am 28. September 1919 in Singen geboren.
1930 zog die Familie nach Stuttgart. Sie lebte zunächst in einer 8-Zimmer-Wohnung im 1. Stock der Traubenstr. 45. Das Haus gehörte ab 1938 Bäcker Härdter, der seine Bäckerei dort hatte. Ob der Umzug 1940 in das Haus Hölderlinstr. 51, das damals dem jüdischen Großkaufmann Scheuer gehörte, der 1939 in die USA entkam, so freiwillig war, wie die ehemalige Nachbarin Johanna Römmelt im Wiedergutmachungsprozess aussagte, ist klar zu bezweifeln.
Familie Guttmann bewohnte zunächst allein die 5-Zimmerwohnung des ehemaligen Hausbesitzers, bevor kurze Zeit später die beiden jüdischen Familien Feuerstein und Kaufmann ebenfalls in diese Wohnung mit einzogen. Familie Kaufmann überlebte die NS-Zeit, Familie Feuerstein nicht.
Siegfried Guttmann, der nach Aussage seines Sohnes Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold war, dem 1924 gegründeten politischen Wehrverbandes zur Verteidigung der Demokratie, starb am 1. Februar 1942 um 10 Uhr bei einer Hausdurchsuchung im Alter von 62 Jahren an einem Herzschlag oder Schlaganfall in seiner Wohnung in der Hölderlinstr. 51 infolge Aufregung. Seine Witwe musste daraufhin die Wohnung verlassen.
Ihr Umzug für kurze Zeit in die Kernerstr. 11, in ein sogenanntes „Judenhaus“ wurde erzwungen, wie ebenfalls der anschließende Umzug in die Marquardtstr. 6 in Stuttgart-Gablenberg. Nachbarn sagten aus, dass die Wohnung von der Gestapo versiegelt wurde und die Möbel von Parteidienststellen der NSDAP weggeschafft wurden.
Die 55-jährige Witwe Sofie Guttmann wurde nur wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes und nach zwei weiteren, erzwungenen Umzügen am 26. April 1942 nach Izbica deportiert, wo sie möglicherweise nie ankam bzw. ermordet wurde – ihr Tod ist ungeklärt.
Tochter Lieselotte Guttmann gelang 1933 die Flucht nach Frankreich, wo sie als Sekretärin in Paris arbeitete, bis sie 1941 in das Lager Gurs nördlich der Pyrenäen deportiert wurde. Das Camp Gurs war das größte französische Internierungslager, in dem die Vichy-Regierung im Auftrag des NS-Regimes zunächst politische Flüchtlinge aus Spanien und ehemalige Interbrigadisten, dann auch französische Juden inhaftierte, die zumeist der Gestapo übergeben und in die Vernichtungslager deportiert wurden. Lieselotte Guttmann wurde entlassen, heiratete und überlebte als Lieselotte Frank.
In der Scheffelstr. 26 in Singen erinnern seit 31. Januar 2015 Stolpersteine an Familie Guttmann.
Sohn Hans-Julius Guttmann, der 1925-1930 die Volksschule und dann bis Ostern 1934 das Oberrealgymnasium in Singen besucht hatte, wechselte nach dem Umzug der Familie nach Stuttgart auf ein dortiges Gymnasium, dann auf eine Handelsschule und absolvierte eine kaufmännische Lehre bei Firma Block in Stuttgart. Wegen „jüdischer Rassezugehörigkeit“ wurde der Junge, der eigentlich Medizin studieren oder das väterliche Geschäft übernehmen wollte, von der weiteren Bildung ausgeschlossen.
Im August 1939 gelang dem knapp 20-Jährigen die Flucht nach England, wo er sich zunächst als Landarbeiter über Wasser hielt und dann der britischen Armee beitrat. Er legte seinen deutschen Namen ab und nahm den Namen Ronald Gilbert an.
Sein Nachruf beschreibt sein Engagement zur Befreiung Deutschlands von den Nazis:
„Mit großer Trauer informieren wir Sie über den Tod von Ronnie Gilbert MBE am 5. Mai 2014. Unser Beileid an seinen Großneffen CVA-Mitglied Rob Greenslade und alle Familie und Freunde.
Ronnie Gilbert, der am 5. Mai 2014 im Alter von 94 Jahren in Blackpool starb, wurde am 28. September 1919 als Hans-Julius Guttmann in Singen geboren. Als Mitglied jüdischen Glaubens floh er kurz vor Kriegsausbruch nach Großbritannien und trat dem Pioneer Corps bei, wechselte später zu den Royal Marines, wo er mit dem 3 (oder X) Troop 10 (Inter-Allied) Commando diente. Er nahm an einer Reihe von Scharmützeln in Nordfrankreich teil und wurde im August 1944 bei einem Feuergefecht mit einer feindlichen Patrouille in Grande Ferme du Boisson am Bein getroffen.
Nach der Kapitulation wechselte Ronnie zum Geheimdienst nach Deutschland, wo er an einer Reihe von Undercover-Operationen zur Verhaftung ehemaliger Nazis teilnahm. Kurz darauf wurde er zum Commando Intelligence Team in Essen versetzt, wo er erneut hochrangige Nazis und Industriechefs verhaftete.
Nach der Demobilisierung trat er am 28. Juni 1947 in den britischen Nachrichtendienst (Deutschland) ein und war bis zu seiner Pensionierung als Stationsleiter in Düsseldorf tätig, wo er mit Politikern, Polizeikräften und Geheimdiensten Nordrhein-Westfalens zusammenarbeitete. Für diese Verdienste wurde er mit dem MBE ausgezeichnet.
Dieser ganz außergewöhnliche und farbenfrohe Charakter wird von allen, die ihn kannten, und vor allem von seinen beiden Jungs und seiner Großfamilie vermisst werden! Ruhe in Frieden, Ronnie“
Quelle: Link Ronald Gilbert MBE No 10(IA) Cdo 3 Truppe [Recherche 13.07.2021]
Seit März 2005 erinnern in der Marquardtstr. 6 Stolpersteine an Sofie und Siegfried Guttmann.
Recherche und Text: Gudrun D. Greth, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost