Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Frank Rothfuß – 27.10.2024 – 18:00 Uhr
Die „Villa Stuck“ am Herdweg in Stuttgart. Hier wohnten die Rosenfelds. Foto: privat
Der Tabakhändler Max Rosenfeld war fest verwurzelt in der feinen Stuttgarter Gesellschaft. Doch das schützte ihn nicht vor dem Terror der Nazis. Seinem Sohn gelang die Flucht in die USA, er selbst schaffte es noch nach Amsterdam, bevor er wieder in die Fänge der Nazis geriet. Doch was geschah mit seinen Kunstwerken?
Er vermisste die Heimat. Sein Zuhause wollte sich Max Rosenfeld nicht von den Nazis nehmen lassen. Als er schließlich 1939 ausreiste, richtete der 72 Jahre alte Schwabe seine Wohnung in Amsterdam so ähnlich ein, wie die alte in der Hölderlinstraße im Stuttgarter Westen. Mit dabei war das Porträt seiner 1928 verstorbenen Frau und die Statue „Der Athlet“ von Franz Stuck.
Ein fast vergessenes Schicksal
85 Jahre später sitzen wir am Schreibtisch von Kai Artinger und schauen auf Fotos der Wohnungen von Max Rosenfeld. Artinger ist Provenienzforscher am Kunstmuseum Stuttgart und hat sich zwei Jahre lang mit dem Leben des jüdischen Tabakhändlers und Kunstsammlers Max Rosenfeld beschäftigt. Wobei das eine ziemliche Untertreibung ist. Artinger hat sich durch Dokumente und Akten gewühlt, Briefe gelesen, war in Amsterdam auf Spurensuche mit Jeff Rosenfeld, dem Urenkel von Max Rosenfeld. Dabei entfaltete sich vor ihm ein Schicksal eines Stuttgarters, der tief verwoben war im Großbürgertum der Stadt. Und dessen Geschichte völlig vergessen worden war. Die Jugendstilvilla am Herdweg 63, gerühmt als „Villa Stuck“ war zerbombt, der Sohn Paul Georg 1938 in die USA geflohen, Max Rosenfeld selbst 1943 im Lager Westerbork entkräftet gestorben.
Paul Georg und Grete, Martha und Mark Rosenfeld. Foto: privat
Der Grafiksammlung des Kunstmuseums waren geblieben. Kai Artinger beschäftigt sich dort mit der Herkunft der Werke, er versucht herauszufinden, wie das Museum in ihren Besitz gekommen ist. In der Sammlung gab es also diese 23 Lithografien von Carlos Grethe. Der gebürtige Uruguayer war Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, als Spross einer weit gereisten Hamburger Kaufmannsfamilie war er vom Meer begeistert. Das war sein künstlerisches Thema. „Einfahrt“ und „Im Hafen“ heißen etwa seine Bilder.
Ein Stempel war der Schlüssel
Artinger fand auf den Werken einen Stempel mit dem Stuttgarter Rössle, umgeben vom Schriftzug: „Stadt der Auslandsdeutschen.“ Sie waren also während des Dritten Reichs in die städtische Sammlung gelangt. Aber wie? Gekauft? Geraubt? Enteignet? Ein Sammlerstempel war überklebt. „Der Name war leider nicht zu entziffern“, sagt Artinger.
Aber ein Sherlock Holmes gibt nicht so schnell auf. Artinger fand heraus, dass eine Kunsthistorikerin eine Monografie über Carlos Grethe geschrieben hatte. Er nahm Kontakt auf und erfuhr, es war der Sammlerstempel von Max Rosenfeld, einem Bewunderer Grethes, der immer wieder Kunstwerke des Zeitgenossen gekauft hatte.
Aber wer war Max Rosenfeld? Was war mit ihm geschehen? Artinger musste tiefer graben. Er wühlte sich durch Archive aller Art, stöberte Dokumente auf, und landete über der Villa am Herdweg und über Amsterdam schließlich in Wyoming. Eine unglaubliche Reise, während der sich ein Leben und das Schicksal einer Familie entfaltete.
Die Wohnung von Max Rosenfeld in Amsterdam. Foto: privat
Und auch ein Stück Stadtgeschichte. Max Rosenfeld hatte einen Tabakgroßhandel im Stuttgarter Westen. Samt Niederlassung in Amsterdam, seine Waren kamen über Rotterdam nach Europa. Seine Schwiegereltern waren Jeanette und Lyon Sussmann. Dieser war 1869 in Stuttgart Teilhaber des Kurz- und Strumpfwarengeschäftes „en gros“. Dann stieg er in Böblingen in die Mechanischen Trikotweberei Ludwig Maier und Cie. ein. Dort fertigten sie Hautana, den von Sigmund Lindauer in Cannstatt erfundenen Büstenhalter, in Serie. Damit wird die Firma zeitweise größter Arbeitgeber der Stadt Böblingen.
Max Rosenfeld wollte nicht flüchten
Rosenfeld bewegt sich also im Königreich und auch in der Weimarer Republik unter den sehr gut betuchten und einflussreichen Menschen der Stadt. Er wird seiner Frau in Paris ein maßgefertigtes Operncape schenken, das mittlerweile in Reichsmuseum in Amsterdam zu sehen ist. Er hatte es dem Museum vermacht, als Dank, dass ihn die Niederlande 1939 aufgenommen hatten.
Warum er so lange mit der Ausreise gewartet hatte, darüber lässt sich nur spekulieren. In der Rückschau, mit dem Wissen von heute, scheint klar: Er hätte viel früher gehen müssen. Doch die Heimat verlassen? Alles, was man sich aufgebaut hat. Rosenfeld ging auf die 70 zu, war verwitwet, kränkelte, noch einmal woanders anfangen? Doch als Sohn Paul Georg und dessen Frau Grete im Jahre 1938 die Tochter Martha bekamen, war klar, die jungen Leute wollten, mussten fort. Und allein zurückbleiben?
Enteignet und beraubt
Paul Georg war technischer Leiter in der Textilfabrik seines Großvaters, als das Unternehmen 1938 arisiert (also geraubt) wurde, durfte er nicht mehr weiterarbeiten. Seine Aktien musste er zu einem lächerlichen Preis verkaufen. Eine Zukunft in Deutschland gab es nicht mehr. Doch die Ausreise war nurmehr schwer möglich, 1935 waren bereits die Pässe von Deutschen jüdischen Glaubens eingezogen worden. Um einen Pass zu bekommen, musste man nachweisen, dass man die sogenannte Reichsfluchtsteuer bezahlt hatte. 1938 hatten die Nazis begonnen, die Vermögen von Juden zu beschlagnahmen, ins Ausland durfte man zehn Reichsmark mitnehmen. Und „unbedingt notwendigen Hausrat“.
Flucht in die Niederlande
Die Rosenfelds hatten Geld und Beziehungen in die Niederlande. Dort lebte Max Rosenfelds Schwägerin Leonie Dentz. Im März 1938 hatten die Niederlande die Grenzen dicht gemacht, sie ließen keine Flüchtlinge aus Deutschland mehr ins Land. Dentz nutzte ihre Kontakte, Paul Georg und Grete Rosenfeld durften ins Land. Über Rotterdam wollten sie weiter nach Amerika. Wie sie eines der seltenen Visa für die USA bekamen, ist nicht klar. Aber laut der Reisestempel in ihren Pässen waren sie immer wieder in den USA gewesen, so kann man vermuten, dass Freunde und Geschäftspartner dort für sie einstanden und bürgten. Denn ohne Bürgen vergaben die USA keine Einreisegenehmigung mehr. Als sie die erhielten, schickten sie die drei Monate alte Tochter Martha zu Leonie Dentz nach Amsterdam, sie sollte in Sicherheit sein, wenn die Eltern noch alle Schikanen zu bewältigen hatten.
Der Pass von Max Rosenfeld. Foto: privat
Und beinahe wäre die Flucht gescheitert. Kurz nach der Pogromnacht am 9. November besuchten sie den kranken Max Rosenfeld. Zwei Gestapo-Männer tauchten auf. Sie wollten Paul Georg verhaften. Er versuchte ihnen das auszureden, sagte, er ginge ohnehin, habe schon ein Visum für die USA. Das interessierte die Schergen wenig. Dafür interessierten sie sich umso mehr für sein Mercedes-Cabrio. Also händigte ihnen Paul Georg Rosenfeld Schlüssel und Papiere aus, die beiden fuhren mit dem Mercedes davon. Und ließen Paul Georg gehen. Im Dezember fuhren Paul Georg und Grete Rosenfeld über Amsterdam nach Rotterdam, schifften sich mit ihrer Tochter nach New York ein.
In Amsterdam
Max Rosenfeld kümmerte sich derweil darum, dass das bisschen Habe, das sie behalten durften, in die USA geschickt wurde. Er selbst reiste im August 1939 nach Amsterdam. Und bezog dort eine Wohnung im Süden der Stadt beim Olympiastadion. Was mit seinem Vermögen geschah, liegt im Dunkel der Geschichte. Die Akten sind im Krieg zerstört worden. So weiß man kaum etwas darüber, was aus der Villa wurde. Der Verkauf der Kunstwerke scheint Teil der Vorbereitung zur Auswanderung gewesen zu sein, vermutet Artinger. Einige Sachen hatte er offenbar herausgeschmuggelt. So das Porträt seiner Frau und „den Athlet“. Artinger hat Fotos gefunden, auf denen man sieht, dass Max Rosenfeld die Wohnung in der Cliostraat 55 so eingerichtet hatte, wie die alte Wohnung in der Hölderlinstraße. Dorthin war er gezogen, als ihm die Villa nach dem Tode seiner Frau zu groß geworden war.
Da Amsterdam ja sein zweiter Firmensitz war, kannte Rosenfeld Leute, hatte Kontakte, aber als die Deutschen in den Niederlanden einmarschierten, schützte ihn das nicht mehr. Juden wurden registriert, ihr Vermögen wurde eingezogen, sie mussten einen Stern tragen, ihre Wohnungen wurden geplündert. Max Rosenfeld kam ins Konzentrationslager Westerbork. Dort starb er am 18. März 1943 im Alter von 75 Jahren.
Eines der Bilder: „Einfahrt“ von Carlos Grethe. Foto: Grethe
Paul Georg und Grete Rosenfeld bauten sich in den USA ein neues Leben auf. Mit ihren zwei Kindern zogen sie nach Kalifornien. Der Enkel Jeff Ronald ist in Wyoming zuhause, aber nächste Woche wird er nach Stuttgart kommen. Um zu erleben, wie Stolpersteine für seinen Uropa, seine Großeltern und seine Tante verlegt werden. Und wie das Kunstmuseum die 23 Bilder von Carlos Grethe an die Familie zurückgibt. Sie gehören wieder den Rosenfelds. Es ist nicht viel, aber doch ein kleines bisschen Gerechtigkeit. Einem Stempel, und der Hartnäckigkeit von Kai Artinger sei Dank.