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Stolperstein-Verlegung in Stuttgart-West: Stolpersteine, die eine Stimme haben

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Jan Sellner – 30.10.2024 – 15:35 Uhr 


Die amerikanische Sängerin und Schauspielerin Eleanor Reissa, begleitet von Patrick Farrell (Akkordeon) bei der Verlegung von Stolpersteinen für ihren Vater Chaskel Schlüsselberg und dessen früherer Familie in der Silberburgstraße 88. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Acht neue Stolpersteine sind in Stuttgart verlegt worden – vier davon erinnern an die jüdische Familie Schlüsselberg. Aus den USA war dazu die Sängerin und Schauspielerin Eleanor Reissa angereist, Tochter des Nazi-Opfers Chaskel Schlüsselberg. Sie sorgte für ergreifende Momente.

Gesang im Stuttgarter Westen: Beim Wirtshaus Hotzenplotz, Silberburgstraße 88, steht eine silberhaarige Frau und singt Lieder auf Jiddisch, der Sprache der aschkenasischen Juden Europas und deren Nachfahren in vielen Teilen der Welt. Es ist Eleanor Reissa, Tochter von Chaskel Schlüsselberg, der hier einst gewohnt hat. Die US-amerikanische Sängerin, Autorin und Schauspielerin (bekannt aus der ARD-Serie „Die Zweiflers“) stammt aus dessen zweiter Ehe, die er nach dem Holocaust und der Auswanderung in die USA schloss. Die Nazis hatten seine erste Familie ermordet.

Eleanor, begleitet vom feinen Akkordeonspiel des Musikers Patrick Farrell, singt an diesem Oktobertag eindringlich. Sie singt von Luftschlössern und goldenen Wegen, von Abschied und Hoffnung. Ihr Publikum besteht aus Mitgliedern der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen um Susanne Stephan, aus Freunden und Weggefährten. Rund 100 Teilnehmer mögen es sein, die an dieser besonderen Stunde teilnehmen.


Frisch verlegte Stolpersteine für Chaskel, Chana, Frida und Heinrich Schlüsselberg Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Neben Eleanor Reissa blitzen golden vier frisch verlegte und mit Blumen geschmückte Stolpersteine für jene verlorene erste Familie: Chaskel Schlüsselberg, seine erste Frau Chana, für seine Tochter Frida und für seinen Sohn Heinrich. Chana und Frida Schlüsselberg waren 40 und sechs Jahre alt, als sie von Stuttgart aus ins polnische Izbica deportiert und dort ermordet wurden. Sohn Heinrich überlebte, weil es der Familie nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 gelungen war, einen Platz für den damals Siebenjährigen in einem der rettenden Kindertransporte zu finden, mit denen 1938/39 rund 10 000 jüdische Kinder nach England gelangten und dort meist bei Pflegefamilien unterkamen. Heinrich, aus dem in England Harry Wrightson wurde, war einer von ihnen. Er blieb zeitlebens auf der Insel. Nächste Woche feiert er seinen 93. Geburtstag. Zur Stolpersteinverlegung konnte er nicht kommen. Doch sein Sohn Titus Julian ist da, bestellt auf Englisch herzliche Grüße und drückt die Dankbarkeit seines Vaters für diesen „Akt der Erinnerung“ aus.

Unbeschreiblich ist das Schicksal, das Chaskel Schlüsselberg selbst widerfuhr. Als siebtes von neun Kindern wurde er 1901 in Galizien geboren. Drei seiner Geschwister wurden später von den Nazis ermordet. 1920 kam Chaskel nach Deutschland, ließ sich in Stuttgart nieder, heiratete, war als Kaufmann erfolgreich. Er handelte mit Lumpen, Textilien und Eiern. Nachdem die Nazis 1933 die Macht übernommen hatten, musste er seine Läden schließen. Der letzte letzte frei gewählte Wohnort der Familie ist die Silberburgstraße 88, dort, wo jetzt die Gedenksteine liegen.

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Es folgte der erzwungene Umzug in ein „Judenhaus“. 1942 erhielt die kleine Familie die Aufforderung zur „Auswanderung in den Osten“. Die Fürsprache seines Arbeitgebers, bei dem Chaskel untergekommen war, bewahrte ihn zweimal vor der Deportation. Die Firma stellte Schuhabsätze her, kriegswichtig für die Wehrmacht. Beim dritten Transportbefehl gab es kein Entkommen mehr. Chaskel wurde nach Auschwitz deportiert und als Zwangsarbeiter in den Buna-Werken in Monowitz eingesetzt. 1945 wurde er auf einen „Todesmarsch“ gezwungen, den er überlebte. Über Buchenwald kam er nach Schönebeck an der Elbe und musste Panzersperren errichten. Sein Martyrium endete in Oranienburg mit der Befreiung durch die Rote Armee.

Doch die seelischen Verletzungen bleiben, auch als er 1949 mit seiner künftigen Frau Ruth in die USA auswanderte und eine neue Familie gründete. Eleanor Reissa, die 1953 geborene Tochter, schildert ihren Vater als einen „von den Nazis tätowierten Mann, der gebrochen worden war. Als ich geboren wurde, waren zwei Drittel seines Lebens vorbei. Ich kannte ihn nie als einen unversehrten Vater und Mann.“ Er habe nach dem Krieg auch keine persönliche Beziehung zu seinem Sohn Heinrich in England mehr aufbauen können. 1976 starb Chaskel Schlüsselberg im Alter von 75 Jahren in New York.

Die Worte seiner Tochter Reissa sind nicht weniger ergreifend als ihr Gesang. „Mein ganzes Leben lang war eine Reise hierher“, sagt sie. Aus jedem Satz ist zu spüren: Die Verlegung der Stolpersteine am ehemaligen Wohnort in der Silberburgstraße, die kleine Gedenkfeier, die Anteilnahme vieler Menschen – das alles bedeutet ihr viel. „Heute beendet die erste Familie meines Vaters ihren schweren Weg“, sagt sie mit belegter Stimme: „Chana und Frida Schlüsselberg haben so lange darauf gewartet nach Hause zu kommen und wieder zusammengeführt zu werden.“ Leise fügt sie hinzu: „Ich bin hier, weil sie nicht mehr leben. Ich lebe, weil Chaskel Schlüsselberg versucht hat, eine neue Familie zu finden, nachdem man ihm alles gestohlen hatte.“


Das im Krieg zerstörte Wohnhaus Silberburgstraße 88. Hier wohnten die Schlüsselbergs zuletzt. Heute steht dort das Wirtshaus Hotzenplotz. Foto: Stadtarchiv Stuttgart

Steine können nicht sprechen. Diese vielleicht schon. Eleanor Reissa ist davon überzeugt. Die Schlüsselberg-Familie bilde jetzt von Stuttgart aus eine „leise Stimme des Widerstands gegen die Grausamkeiten des Faschismus, des Antisemitismus, des Rassismus und des Fanatismus“. Zugleich seien sie eine „laute Erinnerung an die Güte“. Die Stolpersteine, sagt Reissa eindringlich, würden die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verbinden.

Gespräch im Hotel Silber
Am Mittwochabend sprach Eleanor Reissa mit Hilke Lorenz, Redakteurin unserer Zeitung, die die Familiengeschichte der Schüsselbergs detailliert recherchiert hat, im Hotel Silber über ihr Buch „The Letters Projekt“. Zuvor besuchten sie und Titus Julian Wrightson in der Württembergischen Landesbibliothek die Ausstellung „I said ,Auf Wiedersehen‘“, die den Kindertransporten nach England gewidmet ist.

Ebenfalls am Mittwoch wurden Stolpersteine für Max Rosenfeld (Herdweg 63), dessen Sohn Paul Georg, Schwiegertochter Grete und Enkelin Martha verlegt (alle Gustav-Siegle-Straße 3). Ihre Geschichte war und ist einen eigenen Beitrag wert.