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Stolpersteine in Stuttgart: Das Versagen der Nachkriegsjustiz

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Jörg Nauke – 17.11.2024 – 18:00 Uhr


Hermann Schlotterbeck wurde im Welzheimer KZ gequält und danach in einem Wald bei Riedlingen erschossen. Foto: VNN

Die Mitglieder der losen Untertürkheimer Widerstandsgruppe Schlotterbeck wurden zwischen November 1944 und Mai 1945 hingerichtet. Der mitverantwortliche SS-Mann Alfred Hagenlocher erhielt sogar die Staufermedaille des Landes.

Die Szene, die Friedrich Schlotterbeck in seiner Autobiografie beschreibt, lässt einen schaudern: Der Krieg ist vorbei, entschlossen schritt er auf die Annastraße zu, atmete tief. Das Häuschen in Luginsland im Stadtbezirk Untertürkheim, stets das einzige im Ort ohne Hakenkreuzfahne, stand noch. Alles war wie vor einem Jahr, als sich der Arbeiter und Kommunist den Nazischergen durch Flucht in die Schweiz entzog. Vorfreudig drückte er den Klingelknopf. Auf der anderen Straßenseite ging ein Fenster auf: „Zu wem wollen Sie?“, fragte die Nachbarin. Dann sank sie auf die Fensterbank und begann zu weinen. „Es ist niemand da.“ Ringsum öffneten sich Fenster und Türen. „Ja weißt du es denn nicht? Sie sind tot.“ „Alle?“, fragte Schlotterbeck und erkannte seine Stimme fast selbst nicht. „Alle“, sagte die Nachbarin. „Die Gestapo.“

Neunmal Tod durch Kopfschuss
„Alle“ – das sind seine Eltern Gotthilf und Maria, seine Verlobte Else Himmelheber, sein Bruder Hermann, die Schwester Trude Lutz sowie die Freunde Erich Heinser, Emil Gärttner, Sophie Klenk, Emmy und Hermann Seitz. Nach Schlotterbecks Flucht im Juni 1944 hatte die Staatspolizei in Stuttgart seine Familie und Freunde in Haft genommen. „Sie wurden Tag und Nacht gefesselt gehalten und unglaublich geschlagen“, erzählten Augenzeugen nach dem Krieg vor Gericht. Die Gestapoleitstelle hatte beim Reichssicherheitshauptamt die „Sonderbehandlung“ genannte Exekution der neun Widerstandskämpfer ohne Gerichtsverfahren beantragt. Am 30. November 1944 wurde sie in Dachau vollzogen: neunmal Tod durch Kopfschuss. Theodor Seitz, der auch zu der Gruppe gehört, wurde zwei Monate später wegen Hochverrats geköpft.

Heute verweist eine Gedenktafel an dem Häuschen in der Annastraße 6 auf die Widerständler, die vor 80 Jahren zu Opfern der Nazis wurden. Die Schlotterbeckgruppe, die eigentlich ein loser Freundeskreis war, kämpfte damals „für eine Welt der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit“. Über Jahre sammelten sie Informationen über die Rüstungsindustrie und agitierten gegen das NS-Regime.

Ermordung kurz vor Kriegsende
Auch für Hermann Schlotterbeck gab es letztlich kein Entkommen. Er wurde in der Morgendämmerung des 19. April 1945 bei Riedlingen von den SS-Schergen Emil Held, Anton Dehm und dem wegen seiner Gnadenlosigkeit als Wärter im KZ Welzheim „Wildsau“ genannten Albert Rentschler erschossen. Der Gefängnisleiter Held ließ eine Grube in einem Waldstück beim Vöhringer Hof ausheben und stellte für den nächsten Morgen ein dreiköpfiges Erschießungskommando zusammen, dem neben Rentschler der Schutzpolizist Geiger und der Mitarbeiter der Stapoleitstelle, Albert Schaich, angehörten. Kriminalsekretär und SS-Hauptscharführer Werner Kaiser schloss sich dem Kommando zur Beaufsichtigung an. Auf Helds Befehl schossen die Wachleute den gefesselten Häftlingen in den Hinterkopf. Schaich und Kaiser wurden nach dem Krieg vom Mordvorwurf vom Landgericht Ravensburg freigesprochen. Eine Revision wurde verworfen und 1952 vom Landgericht Rottweil endgültig eingestellt. Schaich wurde Konrektor der Tübinger Melanchthonschule und war bis 1969 als Lehrer tägig.

Friedrich Schlotterbeck ließ nach dem Krieg die Leiche seines Bruders ausgraben und beisetzen. Seine sterblichen Überreste liegen auf dem Untertürkheimer Friedhof. Der Grabstein ist umrahmt von Tafeln mit den Namen der übrigen Ermordeten der Schlotterbeck-Familie und ihren Freunden.


Gedenkstätte in Untertürkheim (bei einer Veranstaltung 2021) Foto: Lg/Horst Rudel

In Welzheim, seit 1935 Standort eines als „Schutzhaftlager“ bezeichneten KZ der Gestapoleitstelle Stuttgart, in dem 65 Todesurteile vollstreckt worden waren, wurde 2019 ein Teil des Gottlob-Bauknecht-Platzes nach Hermann Schlotterbeck benannt, der im Gefängnis fürchterlich gefoltert und in Einzel- und Dunkelhaft gehalten worden war. Nach dem Krieg war die nach dem Lagerkommandanten benannte Karl-Buck-Straße schnell in Hermann-Schlotterbeck-Straße umbenannt worden. Dann besannen sich die Stadtväter eines Schlechteren und änderten den Namen in Schillerstraße.

Mit Schlotterbeck starben im Wald bei Riedlingen noch der Elsässer Andreas Wiedemann-Stadler, der als britischer Fallschirmagent mit dem Auftrag eingeflogen war, die Eisenbahnlinie zwischen Sigmaringen und Beuron im Tunnel zu sprengen. Er war allerdings, auf einem Baum hängend, festgenommen worden. Der dritte Ermordete war Gottlieb Aberle, der an seinem Wohnort Dettenhausen im Schönbuch als Kommunist bekannt war und Jahre im Konzentrationslager verbracht hatte. Ihm wurde zu Last gelegt, im November 1944 zwei abgeschossene kanadische Bomberpiloten beherbergt und mit Verbandszeugen seines im Krieg gefallenen Sohnes verarztet zu haben.


Ein Bild aus besseren Zeiten: Hermann Schlotterbeck beim Skifahren. Foto: VNN

Hermann Schlotterbeck hatte wie sein Bruder Friedrich illegal für die KPD gearbeitet. Im Zuge seiner gescheiterten Flucht in die Schweiz wurde er im September 1944 im Bereich der Geroksruhe von Kollegen gesehen und verraten. Er hatte bei der Firma Kodak gearbeitet, die 1941 auf Kriegswirtschaft umgestellt und auch Entfernungsmessgeräte für die Armee hergestellt hatte. Dort arbeitete auch der Untertürkheimer Werkzeugmacher Erich Heinser, der zum engsten Freundeskreis der Familie Schlotterbeck gehörte. 1944 war das „Käpsele“ im Konstruktionsbüro beschäftigt. Mit dem Kollegen Hermann Schultheiss und Hermann Schlotterbeck hat er viel über die Nazi-Regierung geschimpft. Der Auftrag einer Konstruktion eines Richtmessgeräts für die Artillerie besiegelte sein Schicksal. Man warf ihm vor, er habe eine Blaupause des von ihm gefertigten Geräts mitgehen lassen und den Schlotterbecks übergeben, um sie an die Alliierten weiterzureichen. Er wurde am 10. Juni 1944 bei Kodak zusammen mit den Kollegen Emil Gärttner und Sophie Klenk verhaftet, weitere Freunde folgten. Heinser beteuerte seine Unschuld, kam deshalb sogar wie Gärttner freiwillig ins „Hotel Silber“ zurück, nachdem man ihn wegen der dortigen Schäden infolge einer Bombardierung nach Hause geschickt hatte. Er fürchtete, dass sein Vater wie die Schlotterbeck-Eltern in Sippenhaft genommen worden wäre, hätte er die Gelegenheit zur Flucht ergriffen. Es half ihm nichts. Am 21. Februar wird zur Erinnerung ein „Stolperstein“ für ihn verlegt. Nach Emil Gärttner ist in Obertürkheim eine Straße benannt. In Untertürkheim gibt es eine Schlotterbeckstraße.

Legendäre Autobiografie veröffentlicht
Friedrich Schlotterbeck, 1909 in Reutlingen geboren, trat schon als 14-Jähriger in den Kommunistischen Jugendverband ein, er wurde KPD-Jugendfunktionär. Schon 1933 steckten ihn die Nazis in Haft. „Wann werden sie mich holen, und wie werde ich zurückkommen?“, fragte er sich ausweislich seiner Autobiografie, wenn die Schreie misshandelter Häftlinge durch die Gänge hallten. Dann zerrten SS-Männer auch ihn in den Prügelraum: „Wird’s bald, Pfoten zeigen!“ Sie schlugen ihm mit Stöcken auf die Finger, einer haute ihm von hinten ins Genick, sprang ihm mit seinen eisenbeschlagenen Absätzen auf die Zehen. Es hagelte von allen Seiten Tritte, Faustschläge, Knüppelhiebe. Aber er schlug zurück. Seine Strategie: „Wehren! Immer wehren! Dann spürt man nichts.“ Die Adresse der Genossen sei ihm trotz der Schläge nie über die Lippen gekommen, beteuerte er in seinem Buch, das vor fünf Jahren von seinen Enkeln neu aufgelegt wurde.


Friedrich Schlotterbeck wurde im KZ Welzheim jahrelang furchtbar gequält. Foto: Privat

Nach seiner Entlassung 1937 wurde er in Schutzhaft genommen und ins Lager Welzheim überführt, wo er die nächsten sieben Jahre verbrachte – anfangs in einer acht Quadratmeter großen und mit sechs Mann belegten Zelle. Willkürlich wurden die Essensportionen reduziert. Kohlrüben hat man roh und gefroren vertilgt. Aus Verzweiflung meldete sich Schlotterbeck freiwillig für die Entschärfung von Blindgängern. Die Sache sei gefährlich, meinte der zuständige Feldwebel. „Macht nichts. Bei mir ist es egal“, antwortete er.

Im Juli 1943, nach zehn Jahren Haft, wurde Schlotterbeck die Entlassung in Aussicht gestellt – sofern er mit den Nazis kollaborieren würde. Die Gestapo hoffte, durch ihn unbekannten Kommunisten und anderen Staatsfeinden auf die Spur zu kommen. Schlotterbeck stimmte zu, dachte aber nicht daran, tatsächlich Spitzeldienste zu leisten. Amtschef Ludwig Junginger wurde ungeduldig, weil sein Agent nichts Verwertbares lieferte.

Der Doppelagent Eugen Nesper
Schließlich setzte er Eugen Nesper auf ihn an, der in den 30-er Jahren eine Weile bei der Familie Schlotterbeck in Luginsland gewohnt hatte und mit ihr im Widerstand aktiv war. Nesper war als 16-jähriger Mechanikerlehrling in den Kommunistischen Jugendverband (KJVD) eingetreten und gehörte seit 1931 dem Rotfrontkämpferbund (RFB) an. Im Januar 1933 wurde er wegen einer Schießerei mit SS-Leuten verhaftet und wegen Landfriedensbruch zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. In dieser Zeit hat ihm die Gestapo das Angebot gemacht, als Spitzel zu arbeiten, das er nicht ablehnen konnte, ohne Schaden zu nehmen. 1940 zur Wehrmacht eingezogen, lief Nesper 1942 an der Ostfront zur sowjetischen Seite über. In einer zehnmonatigen Ausbildung der Alliierten in Moskau wurde er zum Agenten ausgebildet, zuletzt vom britischen MI 6. Am 8. Januar 1944 sprang er zusammen mit Hermann Kramer bei Salmendingen/ Burladingen mit dem Fallschirm ab. Sie wurden allerdings entdeckt, Kramer mit einem Nasendurchschuss verhaftet und ermordet. Nesper floh, wurde aber nach der Kontaktaufnahme mit seiner Ehefrau, die die Gestapo beschatten lassen hatte, festgenommen und gezwungen, fortan Informationen über die „Schlotterbeck-Gruppe“ zu liefern.

Nesper tötet Zöllner Karl Weber
Als er im Juni 1944 von deren geplanter Verhaftung erfuhr, offenbarte er sich den Freunden und warnte sie. Nesper floh am 4. Juni – wie Friedrich Schlotterbeck – in die Schweiz, erschoss dabei aber den 42-jährigen Hilfszollassistenten Karl Weber aus Uttenhofen (Kreis Ravensburg). Nach dem Krieg tauchte er in Schwäbisch Gmünd auf und bot der amerikanischen Militärregierung seine Dienste an. Die verhaftete ihn aber nach Anzeigen der Angehörigen der ermordeten Stuttgarter und auf Betreiben von Friedrich Schlotterbeck. Allerdings floh er Anfang 1947 aus dem Gefängnis in Ludwigsburg. Ein Jahr später wurde er in der Schweiz verhaftet und ausgeliefert. Er wurde als „Hauptschuldiger“ eingestuft und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, 1950 kamen weitere drei Jahre wegen des Mordes an dem Grenzbeamten hinzu.

Und wieder erging es Schlotterbeck schlecht
Friedrich Schlotterbeck war nach dem Krieg an der Gründung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) beteiligt, wurde Vorsitzender des Roten Kreuzes im Land und Mitglied der Landesleitung der Kommunistischen Partei. Er spürte Täter auf und brachte sie vor Gericht. Der Wunsch seiner Schwester, die aus der Haft geschrieben hat: „Nehmt euch des Kindes an“, war ihm eine Verpflichtung. 1948 siedelte er mit Nichte Wilfriede und seiner späteren Ehefrau Anna nach Dresden über, um beim Aufbau eines besseren Deutschlands mit zu helfen. Doch auch in der DDR erging es dem Paar – beide waren als Schriftsteller tätig – schlecht. Weil Schlotterbeck in einer Gestapoakte als Spitzel auftauchte, wurden er und seine Frau Anfang der 50er Jahre inhaftiert, aber dann nach Ende der Stalin-Ära rehabilitiert. Friedrich Schlotterbeck starb 1979.


Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck, mit ihrer Tochter Wilfriede. Die Tochter wurde von Friedrich Schlotterbeck und seiner Ehefrau Anna aufgezogen. Foto: Privat

Wer waren die Nazis, die im „Hotel Silber“ das Kommando hatten – und wie ging es für sie nach dem Krieg weiter? Johannes Thümmler steht beispielhaft für das Verdrängen der Geschichte und das Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz. Der letzte Chef der Stuttgarter Gestapo, für hunderte Todesurteile gegen Unschuldige verantwortlich, dessen Leben Deportationen, Misshandlungen und Mord prägten und dafür doch nie zur Verantwortung gezogen worden war, genoss bis ins hohe Alter die Idylle am Bodensee. Er starb 2002 in Eriskirch im Alter von 96 Jahren.

Johannes Thümmler: Rentnerdasein am Bodensee
Thümmler war von 1941 bis 1943 Chef der Gestapo in Chemnitz, danach führte er das Einsatzkommando 16 in Kroatien, bevor er Chef der Gestapo-Leitstelle im oberschlesischen Kattowitz wurde. Als Chef des SS-Standgerichts hat der Jurist im Totenblock 11 im Konzentrationslager Auschwitz mindestens 800 Menschen in den Tod geschickt. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess sagte er 1964 aus, ein Freispruch sei praktisch ausgeschlossen gewesen, denn zu seiner Zeit habe es auch keine Unschuldigen gegeben: „Wir fragten den Angeklagten, ob alles stimme, und die sagten alle ja, ja.“ Die Festnahmen erfolgten wegen angeblicher Widerstandstätigkeit und Delikten wie Schleichhandel, Kurierdienste oder dem Abhören feindlicher Sender. Die Gerichtsverfahren dauerten selten länger als zwei Minuten; die Angeklagten wurden aufgrund ihrer vorherigen „Geständnisse“ verurteilt. Thümmler behauptete, nicht zu wissen, ob diese durch Misshandlungen der Gestapo befördert worden seien.

Er geriet in französische Gefangenschaft, wurde 1948 als „Hauptschuldiger“ eingestuft, aber nur zu zweieinhalb Jahren Arbeitslager verurteilt. Weil die Internierung auf die Strafe angerechnet wurden, entließ man Thümmler noch im selben Jahr. Danach fing er bei den Optischen Werken Zeiss in Oberkochen an. Zahlreiche Ermittlungsverfahren führten nicht zu einer Verurteilung: 1970 lehnte das Landgericht Ellwangen die Eröffnung eines Hauptverfahrens mit dem Argument ab, Rechtsbeugung liege bei den Standgerichtsverfahren in Auschwitz nicht vor, da die Angeklagten Geständnisse unterschrieben hätten.


Passbilder von Johannes Thümmler aus Ermittlungsakten Foto: Staatsarchiv Ludwigsburg

Ein weiteres Verfahren, es ging um die Todesurteile gegen zwei Mädchen und eine schwangere Frau Anfang 1945 in Auschwitz, wurde 1999 vom späteren Leiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, aus Mangel an Beweisen eingestellt. Schrimm bezeichnet es als größte Enttäuschung seiner Laufbahn, dass es ihm nicht gelungen war, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer juristisch zu belangen.

Der Name des Gestapomanns war sogar noch 1996 in die Schlagzeilen geraten, als er, nun 90-Jährig die Dreistigkeit besaß, nach dem Mauerfall die Stadt Chemnitz aufzufordern, über 100 Kunstgegenstände herauszugeben, die in der Endphase des Kriegs zusammen mit Museumsgut ins Erzgebirge ausgelagert und danach in die städtischen Museen gelangt waren. Die Stadt Chemnitz verweigerte die Rückgabe der Raubkunst unter Hinweis auf Thümmlers nationalsozialistische Vergangenheit.

Friedrich Mußgay – der Deporteur
Friedrich Mußgay war von 1941 bis 20. April 1945 Leiter der Staatspolizeileitstelle in Stuttgart. Bis 1937 baute er als Chef der Abteilung N das Spitzel- und Informantennetz auf, mit dem Kommunisten wie Schlotterbeck entlarvt werden sollten. In seine Dienstzeit fielen sämtliche Deportationen der Juden aus Württemberg und Hohenzollern. Er beantragte auch beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin zahlreiche „Sonderbehandlungen“ genannte Exekutionen von polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern. In der Regel war er dabei anwesend. Unter dem Ex-Kriminalpolizisten wurden mehr als 2600 Personen deportiert, die meisten fanden den Tod.


Friedrich Mußgay war für mehrere tausend Deportationen von Juden verantwortlich. Foto: Staatsarchiv Ludwigsburg

Auch Musgay geriet in französische Gefangenschaft und kam wieder frei. Im Januar 1946 gelang es aber dem amerikanischen Militärgeheimdienst einen Verbund ehemaliger Gestapo-Beamter auszuheben. Musgay wurde zusammen mit seiner weiblichen Begleitung in einem Bauernhaus in Deggingen in der Nähe von Geislingen verhaftet und ins Militärgefängnis in der Weimarstraße 20 gebracht, wo er sich aus Furcht vor einem Prozess am 3. September 1946 in seiner Zelle erhängte.

Alfred Hagenlocher klagt sich frei
Der verantwortliche Sachbearbeiter in der Causa Nesper/Schlotterbeck im Januar 1945 war Alfred Hagenlocher, der auch die in Dachau vorgenommenen Hinrichtungen an das Stuttgarter Standesamt gemeldet hatte. Er versteckte sich im März 1945 mit seiner Geliebten in einer kleinen Hütte im Schönbuch. Wie Thümmler und Musgay haben auch ihn die Franzosen verhaftet und wieder freigelassen, danach internierten ihn aber die Amerikaner. Er wurde von der Spruchkammer zunächst als Hauptschuldiger eingestuft, erreichte in mehreren Berufungsverfahren bis 1951 aber tatsächlich die Einstellung des Verfahrens. Damit galt er als vom Entnazifizierungsgesetz nicht betroffen. Und dies, obwohl Friedrich Schlotterbeck gegen ihn aussagte und die Todesurteile gegen die Mitglieder seiner Familie und engen Freude von Hagenlocher gegengezeichnet worden waren.

Erwin Teufel hängt dem Nazi einen Orden um
Unfassbar auch, wie der für die Gegenabwehr zuständige Gestapo-Beamte sich danach eine Karriere als Kunstmanager, Präsident der Hans-Thoma-Gesellschaft in Reutlingen, Leiters der Städtischen Galerie Albstadt und Gründer des Museums für Volkskunst in Meßstetten aufbauen konnte, ohne mit seinen Taten im Dienst der SS konfrontiert zu werden. Der überzeugte Nazi war sogar hochdekoriert: Obwohl das baden-württembergische Kultusministerium 1975 auf Anfrage des Bundespräsidialamts schriftlich davon abgeraten hatte, ihm das Bundesverdienstkreuz wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP zu verleihen, wurde er in seiner baden-württembergischen Heimat gleich mehrfach ausgezeichnet. 1994 verlieh ihm sogar der damalige Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) die Staufermedaille, die höchste Auszeichnung des Landes.

Haasis lobt das Lebenswerk des SS-Mitglieds
Dies geschah anlässlich des 80. Geburtstags im Landratsamt des Zollernalbkreises. Übergeben wurde die Medaille vom früheren Landrat, dem CDU-Fraktionsvize im Landtag und Sparkassenpräsidenten Heinrich Haasis. Er hatte Hagenlocher für die Ehrung empfohlen. In der Laudatio hieß es, das Lebenswerk des Altnazis sei geprägt gewesen durch „außergewöhnlichen Idealismus und Tatkraft“. Haasis beteuerte später, nachdem ein Historiker im Haus der Geschichte die Verantwortung Hagenlochers für das Schreckensregiment im „Hotel Silber“ und die Ermordung der Schlotterbeck-Gruppe ans Licht brachte, davon habe er nichts gewusst. Und Erwin Teufel vermochte sich anlässlich des 75. Jahrestags der Ermordung der Gruppe 2020 auf Nachfrage nicht mehr an die Ordensverleihung erinnern. Die Kunst hatte Hagenlocher bis zu seinem Tod 1998 vor Entdeckung geschützt.


Heinrich Haasis (links) überreichte dem Ex-Gestapo-Mann Alfred Hagenlocher die Staufermedaille des Landes. Foto: Töpfer

In Briefen an dessen Nachnachfolger Winfried Kretschmann (Grüne) haben Bürger die nachträgliche Aberkennung der Medaille gefordert. Doch das geht nach Aussage einer Sprecherin des Staatsministeriums nicht, weil es sich nicht um eine staatliche Ehrung, sondern um ein Geschenk handele, das nur lebenden Personen entzogen werden könnte. Bei Toten sei das analog zur Praxis des Bundespräsidialamts anders. Und eine Schenkung könne nach dem Tod des Beschenkten auch nicht zivilrechtlich widerrufen werden. Dass es seinerzeit keine Vorabprüfung gegeben hat, wird damit begründet, dass erst ab dem Jahr 2000 die Staufermedaille mit einer Urkunde ergänzt worden sei und sie sich „nach und nach von einem Geschenk hin zu einem Ehrenerweis“ entwickelt habe. Das in Ehrungsangelegenheiten übliche Prüfverfahren unter Einbeziehung der Ressorts und der nachgeordneten Behörden werde für die Staufermedaille erst ab dem Jahr 2009 systematisch durchgeführt. Eine Garantie, nicht den Falschen auszuzeichnen, ist das aber auch nicht.

Distanzierung ja, Entschuldigung nein
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) könnte freilich die Größe besitzen, gegenüber Wilfriede Heß, der noch lebenden Tochter von Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck, die von Thümmler, Musgay und Hagenlocher in den Tod geschickt wurde, im Namen der Landesregierung das Bedauern ausdrücken, dass man den Peiniger ausgezeichnet hat. Das wird aber kategorisch abgelehnt: „Es steht dem amtierenden Ministerpräsidenten nicht zu, sich für das persönliche Handeln seines Amtsvorgängers zu entschuldigen“, heißt es auf Anfrage. Es muss also reichen, dass sich das Staatsministerium „deutlich von der Entscheidung aus dem Jahr 1994 distanziert“ und feststellt, „dass nach heutigem Kenntnisstand über die NS-Vergangenheit von Herrn Hagenlocher eine Ehrung von ihm durch das Land Baden-Württemberg selbstverständlich undenkbar wäre“. Die damalige Ehrung sei aus heutiger Sicht unstrittig ein Fehler gewesen.

Veranstaltungen zum 80. Jahrestag der Ermordung der Widerstandsgruppe Schlotterbeck
Podiumsgespräch: „Der Mord an Hermann Schlotterbeck und die Rolle der Gestapo“ werden anlässlich des 80. Jahrestags der Ermordung der „Schlotterbeck-Gruppe“ am Sonntag, 24. November 2024, von elf bis 13 Uhr, im „Hotel Silber“ in einem Podiumsgespräch mit dem Autor Bernd Burkhardt und dem Historiker Ulrich Widmann thematisiert. Die Moderation hat der Journalist Hermann G. Abmayr.

Lesung: Der Obertürkheimer Schauspieler und Regisseur Christoph Hofrichter liest am Mittwoch, 4. Dezember 2024, ab 20:15 im Theaterhaus auf dem Pragsattel (Halle T4) aus Friedrich Schlotterbecks Original-Autobiografie „Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne“ – Erinnerungen eines deutschen Arbeiters 1933-1945“ und begleitet den Abend mit Liedern aus der sozialistischen Arbeiterbewegung sowie Texten und Liedern von Kurt Tucholsky und F. J. Degenhardt. Die Einführung übernimmt der Stuttgarter Michael Horlacher, dem Mitherausgeber der Briefe aus Gefängnissen und KZs von Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck.

Gedenken: Am 30. November findet auf dem Untertürkheimer Friedhof um 14 Uhr an der Gedenkstätte mit dem Grab von Hermann Schlotterbeck eine Veranstaltung zum Gedenken an die vor 80 Jahren von den Nationalsozialisten Ermordeten statt.