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Gerhard Eggensperger, Beethovenstr. 26

Gerhard Eggensperger wurde 1941 in der Heilanstalt Eichberg in Eltville am Rhein ermordet. Er hatte das Downsyndrom und wurde 1 Jahr und 10 Monate alt.

„Wir müssen Ihnen leider mit dem Ausdruck unseres Beileides mitteilen, dass Ihr Söhnchen Gerhard Eggensperger am 16.11.1941, 15 Uhr, ganz plötzlich an Masern verstorben ist. Die Beerdigung ist auf Freitag, den 21.11.1941 festgesetzt und findet um 16 Uhr auf dem hiesigen Anstaltsfriedhofe unentgeltlich statt.“

Die Todesnachricht, unterzeichnet vom Direktor der Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau, geht an Karl und Mathilde Eggensperger. Gerhard war am 9. Februar 1940 zur Welt gekommen und wuchs bei seinen Eltern und seiner großen Schwester in Stuttgart-Botnang auf.

Die Schwester erinnerte sich Jahrzehnte später nur noch, wie der Vater im Oktober 1941 mit dem Jungen auf dem Arm in der Wohnungstür stand. Sie war fünf Jahre alt und ihr wurde gesagt, der Vater bringe ihn zur Beobachtung. Eine Behörde habe das angeordnet.

„Gerhard war gesund, er hat gelacht. Er hatte nur andere Augen“, schilderte sie ihr Nichtverstehen. Die Stimmung sei seltsam gewesen. „Vater hat noch gewunken.“ Dann seien die beiden weggegangen. Irgendwann sei ein Brief gekommen und die Eltern sagten: „Das Gerhardle ist tot.“

Tatsächlich waren zwischen seiner Ankunft in Eichberg am 20.10.41 und seinem Tod nur vier Wochen vergangen. Das lässt sich anhand des Krankenbuches im Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen nachvollziehen.

Das nächste Bild, das die Schwester in Erinnerung hatte, ist auf dem Botnanger Friedhof. Sie sah sich und die Eltern in der Aussegnungshalle am Sarg. Wie das Kind vom Eichberg doch noch nach Stuttgart gekommen ist, wusste sie nicht. In der Familie erzählte man sich später, die Eltern hatten darauf gedrungen, ihr Kind selbst zu beerdigen. Im Krankenbuch des Archivs steht, dass die Leiche am 19.11. nach Stuttgart überführt wurde.

Drei Jahre nach Gerhards Tod bekommen Mathilde und Karl Eggensperger ein weiteres Kind. Über Gerhards Leben und Sterben wird in der Familie zwar nicht geschwiegen, aber auch nicht wirklich gesprochen. Erst nach dem Tod der Eltern in den 1990er Jahren sind weitere Unterlagen aufgetaucht.

Sie zeigen, dass sie sich offensichtlich nicht mit der Todesnachricht zufriedengegeben haben: Sie haben noch einmal nachgefragt. Am 1.12.1941 schreibt der stellvertretende Anstaltsdirektor diesen Antwortbrief:

„Auf Ihre Anfrage wird Ihnen mitgeteilt, dass es sich bei Ihrem Söhnchen um eine mongoloide Idiotie gehandelt hat. Es ist eine charakteristische Erscheinung, dass solcheKinder gerne Erkältungs- und Infektionskrankheiten anheimfallen, weil ebenso wie (…) die Schwäche des Gehirns auch eine Minderwertigkeit der Schleimhäute und vitalen Energie diese Krankheit kennzeichnet. Man findet z.B. von solchen Mongolen keine Erwachsenen. Sie sterben alle vor der Zeit der Geschlechtsreife. Nur ganz vereinzelt gibt es ältere, die sich aber nicht selbst ernähren können. Bei Ihrem Kindchen hat die Sektion schwerste Gehirnveränderungen ergeben (…). Es hätte nie das Intelligenzalter eines normalen 5-jähreigen Kindes erreichen können und hätte somit nie eine Schule besuchen können.“

Die Bürokratie arbeitet zuverlässig weiter. Am 31. März 1942 erhält die Familie ein Schreiben vom Wohlfahrtsamt Stuttgart. Betrifft: Fürsorge Gerhard Eggensperger. „Für die Verpflegung Ihres Kindes in der Landesheilanstalt Eichberg ist dem Bezirksvorsorgeverband Stuttgart-Stadt ein Fürsorgeaufwand von 67,50 RM entstanden. Wir ersuchen Sie, uns diesen Betrag bis 15.4. d. Js. zu ersetzen. Eine Zahlkarte ist angeschlossen.“

Nach dem Krieg machen die Eltern erneut einen Vorstoß. Sie schicken alle Unterlagen an das Stuttgarter Polizeipräsidium. Dieses teilt ihnen am 27.7.1948 mit: „Der Untersuchungsrichter beim Amtsgericht Münsingen hat uns nunmehr aufgefordert die Originalschriftstücke einzusenden. In der Anlage gehen Ihnen deshalb beglaubigte Abschriften zu. Gezeichnet (…).”

Der Betreff des Schreibens lautet: Euthanasie in Württemberg. Karl und Mathilde Eggensperger haben nie mehr eine Nachricht wegen ihres Sohnes Gerhard erhalten. Die Nichten haben den Anstoß für den Stolperstein für ihren Onkel gegeben.

Am 26. November wurde in der Beethovenstraße 26 ein Stolperstein für Gerhard Eggensperger verlegt.

Recherche und Text: Stolperstein-Initiative Stuttgart-Botnang