Elisabeth Schneck wurde am 6. Februar 1926 als drittes von fünf Kindern des Musikalienhändlers Josef Schneck und seiner Frau Sofie in Stuttgart geboren und katholisch getauft.
Die Sinti-Familie, deren Vorfahren bereits vom Württ. König für ihre Musik mit der Goldenen Rose ausgezeichnet wurden, lebte gerne und in guter Nachbarschaft in dem von Gärten umgebenen zweistöckigen Holzhaus in der Stöckachstr. 28 in Ostheim.
Elisabeth und ihr ein Jahr älterer Bruder Donatus besuchten ab 1932 gemeinsam die katholische Klasse 1-2 der Ostheimer Schule. Sie gingen gerne in den Unterricht bei Frl. Schießer. Elisabeth beschrieb oft ihren schönen Schulweg durch die Gärten vom Stöckach hinauf in die Landhausstraße: „In Ostheim war meine schönste Zeit.“ Da war die Familie geachtet. Elisabeth konnte unbeschwert mit ihrer Freundin Ruthlore Ganzloser aus der Werastraße und mit ihren Geschwistern spielen.
Als der Vater im November 1936 den Hinweis auf die nahende Gefahr der Verhaftung bekam, zog die Familie nach München-Waldtrudering, wo Angehörige lebten. Doch auch hier war die Familie nicht lange sicher.
In der Schule lernte Elisabeth mit Begeisterung ihre Rollen im Schultheater, angespornt von ihrer Lehrerin, einer Zentrumsabgeordneten, die ihr eine Schauspielkarriere zutraute. Später erfuhr sie, dass die Lehrerin sie 1938 davor bewahrt hatte, von der Schule verwiesen zu werden. So konnten Elisabeth und ihre Geschwister bis zum Ende der 8. Klasse die Schule besuchen.
Ihre schöne Schrift, mit der sie am 28.10.1938 einer Freundin ins Album schrieb „Dein Leben sei fröhlich und heiter, kein Leiden betrübe Dein Herz. Glück sei stets dein Begleiter. Nie treffe dich Kummer und Schmerz“ war für Elisabeth später in Auschwitz lebensrettend.
Die musikalische Elisabeth begann eine Ausbildung als Bäckereiverkäuferin, in ihrer Freizeit sang sie im Münchener Bachchor und bekam Klavierunterricht. Zunehmend spürten auch die Kinder der Familie die Stimmung, die sich gegen all jene richteten, die der NS-Ideologie nicht entsprachen: Elisabeth musste ihre Ausbildung aufgeben, sie wurde zur Arbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet. Bruder Donatus, der sich gegen prügelnde Hitlerjungen gewehrt hatte, wurde in ein Jugendheim eingewiesen.
Elisabeth war gerade 17 Jahre alt geworden, als die Familie im März 1943 morgens um sechs Uhr verhaftet, auf Lastwagen abtransportiert und nach Auschwitz deportiert wurden: Ihre Eltern, Geschwister, die 80-jährige Großmutter, die dreijährige Nichte und weitere Verwandte, danach die andere Großmutter mit ihrer Tochter und neun Enkeln. „An diesem Tag wurde all das, was unser Leben bisher ausgemacht hatte, unwiederbringlich zerstört. Wie Tiere hat man uns in Güterwaggons gepfercht (…). Als wir nach Auschwitz deportiert wurden, blieb unser Zug aus irgendeinem Grund plötzlich stehen. Aus der Gegenrichtung kam auch ein Zug, der genau neben uns gehalten hat. Da konnten wir dem Lokführer direkt ins Gesicht sehen und mein Vetter fragte ihn: “Sagen Sie mal, wo ist das, was ist denn dieses Auschwitz?“ Ich vergesse niemals die Augen dieses Lokführers. Er hat uns angestarrt und kein Wort herausgebracht“ schildert Elisabeth später.
In Auschwitz wurde ihnen alles abgenommen: Kleider, Schuhe, die wenigen mitgebrachten Sachen, die Haare wurden ihnen geschoren, eine Häftlingsnummer in den Arm tätowiert – Säuglingen auf den Oberschenkel – auf Elisabeths Arm Z 3991, Z 3992 auf dem ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Gisela „Wir hörten auf Menschen zu sein“.
Kinder, Alte, Frauen und Männer mussten schwere Steine schleppen zum Bau des Lagers unter unbeschreiblicher Brutalität der SS. Gewalt, Hunger und die katastrophale Hygienesituation waren Alltag. Kranke erhielten beim Typhusausbruch keine Behandlung, an der Rampe wurde selektiert, die Schornsteine der Krematorien rauchten Tag und Nacht.
Die Bitte der hungernden Enkelin „Opa, ich will Broti, Butti, Zucki“ konnte Elisabeths Vater in Auschwitz nicht erfüllen. Die Kinder starben zuerst – sie verhungerten oder fielen den Versuchen von Dr. Mengele zum Opfer.
Elisabeth kam mit Glück in die Schreibstube. Dort musste sie nach den Transportlisten Karteikarten anlegen und das Hauptbuch der Männer führen. „Tausende von Sterbemeldungen habe ich eingetragen“, darunter auch die ihres Vaters, ihres kleinen Bruders und weiterer Angehöriger.
„Man kann Auschwitz mit nichts vergleichen“ drückte Elisabeth die unvorstellbaren und unaussprechlichen Grausamkeiten der Nazis aus, die sie erlebte. Auschwitz prägte sich grausam unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Porajmos, das große Verschlingen, der NS-Völkermord an den Sinti, prägte fortan ihr Leben – ein Leben ohne Familie, in Trauer um die Lieben.
Elisabeth bewunderte die mutigen Sinti, die sich mit Werkzeugen wehrten, um die „Liquidierung“ des Lagers zu verhindern, bis die SS sie mit Maschinengewehren mordete. Anfang August 1944 wurde Elisabeth ins Frauen-KZ Ravensbrück gebracht und von dort in das Außenkommando Graslitz, wo sie unter schlimmsten Bedingungen Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion leisten musste. Von den Gewehren, die sie justieren mussten, sabotierte sie gemeinsam mit Mitgefangenen jedes zehnte, später jedes achte.
Die Flucht unter Todesgefahr gelang im April 1945 mit einer Freundin und einer Cousine auf dem Marsch vor den heranrückenden Alliierten. – „Über 30 Angehörige habe ich in NS-Vernichtungslagern verloren, darunter meine Eltern und meine vier Geschwister. Ich allein habe überlebt.“
Elisabeth Schneck war bei der Befreiung 19 Jahre alt, sehr krank, geschwächt, traumatisiert vom Grauen der Lagerhaft und dem Verlust aller Angehörigen. Unvorstellbar, dass dort nach 1945 mit der »Bayerischen Landfahrerzentrale« die Sondererfassung der Sinti und Roma neu aufgebaut wurde, die bis 1970 existierte. In den Amtsstuben saßen weiterhin alte Nazis.
„Es ist mein größter Wunsch, dass die heutige und künftige Generation aus unseren schrecklichen Erfahrungen lernt, und dass Auschwitz nie wieder Wirklichkeit werden kann“ war ihre Schlussfolgerung. Elisabeth bewahrte sich ihren tiefen Glauben und legte viel Hoffnung in junge Menschen.
Mit der Gründung des Vereins „Bildung für Sinti und Roma, Ravensburg e.V. setzte sie früh die Ziele:
„Wir wollen unsere eigene Geschichte erfahren und verstehen; aus ihr lernen und solidarisch unsere Zukunft gestalten. Diskriminierung überwinden und denen, die uns verachten, helfen zu ihrer eigenen Menschlichkeit zurückzufinden. Wir wollen die seit Generationen andauernde Bildungsferne beenden. Wir wollen dazu beitragen, dass Sinti Kinder die gleichen Bildungschancen wahrnehmen und verwirklichen können. Wir wollen alles in unserer Macht Stehende tun, um Bildungsbrüche oder -abbrüche zu verhindern. Wir laden alle ein, gemeinsam an diesem Ziel zu arbeiten.“
Jungen Menschen schenkte sie das Buch „Elses Geschichte – ein Mädchen überlebt Auschwitz“, das Michael Krausnick geschrieben hatte, den sie sehr schätzte.
Elisabeth heiratete Albert Guttenberger (16.12.1917 – 28.10.1995), der aus einer Schorndorfer Sinti-Familie stammte. Der größte Kummer ihres Lebens war, dass sie kein Kind haben konnten. Dies und die viele Aussagen, die Elisabeth Guttenberger als Zeugin in NS-Prozessen gegen ehemalige Peiniger und die Mörder an ihren Menschen machen musste, retraumatisierten sie immer wieder und schadeten ihrer Gesundheit nachhaltig.
Eine Freude war es ihr, als 2007 die Schülerforschungs-AG der Ostheimer Schule mit der damaligen Rektorin Gudrun Greth die Geschichte des Klassenfotos mit den beiden eingekreisten Kinderköpfen erforschte, Kontakt mit ihr aufnahm, eine Ausstellung zur Geschichte ihrer Familie erarbeitete, zwei ehemalige Klassenkameradinnen fand und ein Kunstprojekt entstand, mit dem die Ostheimer Schüler mit den Künstlern Wolfram Isele und Sieger Ragg an Elisabeths ermordeten Bruder Donatus erinnerten. Nach etlichen Telefonaten besuchte Elisabeth Guttenberger ihre ehemalige Grundschule. Im Alter von 81 Jahren bestieg sie sogar das Turmstüble, um die Ausstellung anzusehen und dankte den Jugendlichen.
Beim Besuch der für ihre Familie verlegten Stolpersteine in der Stöckachstraße erzählte sie viel aus ihrer Kinderzeit in Ostheim. Bei der Verleihung des Alfred- Hausser-Preises der VVN an die Schülerforschungs-AG mahnte Elisabeth Guttenberger das Lernen aus der Geschichte an.
Die Beziehung zwischen Elisabeth Guttenberger und Gudrun Greth wuchs zu vertrauensvoller, lebenslanger Freundschaft.
Elisabeth Guttenberger war damit einverstanden, dass nach ihrem Tod auch für sie ein Stolperstein verlegt werden sollte und damit an sie und ihre Angehörigen in Ostheim erinnert.
Dass ihr Stolperstein von Schülern gespendet wurde – der 10. Klasse des Gymnasium Korntal – wäre ihr sicher ebenso eine Freude wie die Teilnahme der Ehemaligen der Schülerforschungs-AG an der Verlegung.
Am 25. März 2024 entschlief Elisabeth Guttenberger in ihrer Wohnung in Wildberg im Alter von 98 Jahren.
Diese Gedichte widmen wir Frau Elisabeth Guttenberger, geborene Schneck, am 14. März 2008 anlässlich der Verlegung der Stolpersteine für ihre Familie.
Wir Überlebenden
Wir, die wir noch leben,
haben ALLES verloren
Was für einen Sinn hat es,
DENNOCH weiter zu leben?
Ihr, die Ihr noch lebt,
Wisst Ihr, wie es schmerzt,
auch nur darüber zu reden.
Wir schreien weiter – stumm
Und so geht unser Leben rum.
Sie haben alles verloren
Sie haben alles verloren
Schmerzhaft und traurig
ist ihr Weiterleben.
Sie können einfach
NICHT darüber reden.
Warum mussten Menschen
sterben?
Warum gab es kein Erbarmen?
PASST ALLE AUF,
die Ihr noch lebt,
dass so etwas
NIE MEHR geschieht!
Im Gedenken an den ehemaligen Schüler unserer Schule, Donatus Schneck, seine Geschwister, Eltern, Großeltern und Verwandte haben wir die Gedichte in einer Poesiestunde mit Herrn Harry Fischer angefertigt.
65 Jahre nach der Deportation der Sinti lernen wir aus der Geschichte der ehemaligen Ostheimer Familie Schneck und setzen uns ein für eine Zukunft, in der jeder Mensch als einzigartiges Wesen Wertschätzung erfährt.
Henok Afewerki*Faruk Erik*Onur Kilinc*Talha Öztürk „
Erinnerung an Donatus Schneck – ein Kunst-Erinnerung- und Begegnungsprojekt
“Wenn ich Donatus begegnen könnte, würden wir …“
Sich einfühlen in einen ehemaligen Ostheimer Schüler * seinen Schulweg immer wieder begehen und sich inspirieren lassen *Druckstöcke aus einem Schulhofbaum, den vermutlich Donatus noch gesehen hat * vier sportlich-jugendliche Begegnungen über die Zeiten hinweg * ES KANN NICHT SEIN * über alle Kunstwerke ist der braune Güterwaggon gerollt, der die Familie Schneck nach Auschwitz deportiert hat * ES SOLLTE ANDERS SEIN * Die Schrift spiegelverkehrt irritiert * man muss sich anstrengen, um sich anzunähern an Donatus, an seine Familie, an den PORAJMOS, den unmenschlichen Völkermord der Nazis am Volk der Sinti * in ihrer Sprache gibt es kein Wort für Krieg * Sinti heißt MENSCH.
Familie Schneck ist unvergessen. Ostheimer Jugendliche haben die Geschichte erforscht. Elisabeths ehemalige Klassenkameradinnen Charlotte Mardicke und Annemarie Lang, geb. Heimrich, besuchten die Ausstellung.
SchülerInnen pflegen die Stolpersteine. „Ich bin ein Rom“ offenbart ein Schüler seiner Klasse beim Stolpersteinputzen.
An der Friedenspromenade 40 in München erinnert eine Stele an Familie Schneck.
Elisabeth Guttenberger, geb. Schneck, hat durch ihr Wirken das Lernen aus der Geschichte ermöglicht und die Umsetzung des „Nie wieder!“ in jüngere Hände gelegt. Nun ist es an den nachfolgenden Generationen, sich einzusetzen für Menschlichkeit, Verständnis und Offenheit allen Kulturen gegenüber.
Am 26. November 2024 wurde für Elisabeth Guttenberger, geb. Schneck in der Stöckachstraße 28 ein Stolperstein verlegt.
ELISABETH SCHNECK
FLUCHT 1943
VERHAFTET 1943 MÜNCHEN
DEPORTIERT 1943
AUSCHWITZ
1944 RAVENSBRÜCK
1944 FLOSSENBÜRG / GRASLITZ
15.4.1945 TODESMARSCH – FLUCHT
ÜBERLEBTE ALS EINZIGE IHRER FAMILIE
„Ein Stolperstein für Elisabeth Schneck“ – Projektgruppe der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost: Gudrun Greth, Walter Geisse, Vincenzo Paladino
Musik: Joshi Graf, Gismo Graf – Gitarrenduo
Ehemalige Mitwirkende der Ostheimer Schülerforschungs-AG: Henok Afewerki, Faruk Erik, Onur Kilinc, Talha Öztürk
Der Stolperstein für Elisabeth Guttenberger, geb. Schneck, wurde dankenswerterweise gespendet von 10. Klassen des Gymnasiums Korntal mit ihrem Lehrer Jan Reiser.
Anlässlich der Stolperstein-Verlegung erscheint zum 26. November 2024 der Podcast gedenkworte für Elisabeth Guttenberger, geb. Schneck, in Kooperation mit der Akademie für gesprochenes Wort Stuttgart /Uta Kutter Stiftung.