Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Sandra Belschner – 28.11.2024 – 19:00 Uhr
Dezember 1941: jüdische Bürger mit ihrem Gepäck im Sammellager auf dem Killesberg. Foto: Stadtarchiv Stuttgart/University of Jerusalem
Edith Lax und ihre kleine Tochter Ruth wurden im Dezember 1941 mit 1000 weiteren Juden aus dem Südwesten nach Riga deportiert – und im berüchtigten Wald von Bikernieki brutal ermordet.
Zusammengepfercht in unbeheizten Abteilwägen der Deutschen Reichsbahn kauern 1013 jüdische Männer, Frauen und Kinder im Sonderzug „Da 33“. Wohin wird die Fahrt gehen? Was erwartet sie am Ziel?
Es ist früher Vormittag am 1. Dezember 1941, als sich der Zug auf den Weg vom Stuttgarter Güterbahnhof in Richtung Osten macht. Die Passagiere wissen nur, sie sollen umgesiedelt werden. So hat man es ihnen zumindest in einem Schreiben mitgeteilt.
Mutter und Tochter fahren ohne den Vater in den Tod
In einem der Waggons sitzt die 36-jährige Edith Lax mit ihrer fünfjährigen Tochter Ruth. Der Vater und Ehemann Arthur Lax ist nicht bei ihnen. Weil ihm seine Stelle als Handelsvertreter einer großen Schuhfabrik „aus rassischen Gründen“ gekündigt worden war, wanderte er bereits 1938 nach Chicago aus, wo ein Bruder von ihm lebt. Wenn er genug verdient und sich eine Existenz aufgebaut hat, holt er seine kleine Familie in die USA nach – so der Plan. Doch sie werden sich nicht mehr wiedersehen.
1933 bildeten 11.000 Jüdinnen und Juden in Württemberg eine kleine Minderheit von 0,4 Prozent. Auch im Regierungsbezirk Hohenzollern lag der Anteil bei 0,4 Prozent. Die jüdische Bevölkerung lebte überwiegend in den Städten, sie war meist modern eingestellt und sozial engagiert.
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Acht Jahre später sind Tausende von ihnen aus purer Existenzangst vor dem Nazistaat geflüchtet. Und wer jetzt noch da ist, kommt nicht mehr raus. Die Ermordung der europäischen Juden ist längst beschlossene Sache. Der Stuttgarter Gestapochef Friedrich Mußgay spricht schon im Juni 1941 von der „Endlösung der Judenfrage“. Bis zum Herbst nimmt das Vorhaben immer schärfere Konturen an. Zahlreiche Nazi-Funktionäre wetteifern im Südwesten des Deutschen Reichs um das Prädikat der ersten „judenfreien“ Stadt oder des ersten „judenfreien“ Gaus.
Sammelstelle für ganz Württemberg auf dem Killesberg
Den ersten großen Transport von Stuttgart nach Riga am 1. Dezember 1941 tarnt die Gestapo noch als Umsiedlungsaktion in den Osten. Ausgenommen sind zunächst Jüdinnen und Juden über 65, Juden die in einer „privilegierten Mischehe“ leben, jüdische Zwangsarbeiter oder Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit.
Die Jüdische Kultusvereinigung Württemberg wird gezwungen, jeden Einzelnen der Ausgewählten aufzufordern, sich für die Deportation bereit zu machen. Auch Edith Lax bekommt im November 1941 so ein Schreiben: „Auf Anordnung der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Stuttgart, haben wir Sie davon zu verständigen“, liest sie, „dass Sie und Ihre oben bezeichneten Kinder zu einem Evakuierungstransport nach dem Osten eingeteilt worden sind.“ Sie darf maximal 50 Kilogramm Handgepäck mitnehmen und muss für die Transportkosten von 60 Reichsmark aufkommen.
Am 26. November beginnt die Aktion. Jüdinnen und Juden aus 30 Orten in Württemberg und Hohenzollern werden in das Lager auf dem Killesberg gebracht. Aus Stuttgart treibt man in den letzten Novembertagen 338 Menschen zusammen. In Heilbronn müssen sich um die 50 Juden auf dem Wollhausplatz einfinden, wo sie dann in Bussen abgeholt werden. Im oberschwäbischen Laupheim eskortiert die Ortspolizei die 23 Opfer zum Bahnhof. Für 111 Juden aus Haigerloch und elf aus Hechingen bestellt der dortige Landrat drei Waggons bei der Reichsbahn. Die Deportation geschieht vor den Augen der Bevölkerung. Gestapo und Polizei versiegeln die Wohnungen der Opfer, ihr gesamtes Vermögen, ihre Immobilien samt Hausrat werden beschlagnahmt.
Als Sammellager dient die Ehrenhalle des Reichsgartenschaugeländes auf dem Stuttgarter Killesberg. Dort herrscht eine drangvolle Enge. Bei der Ankunft sorgen peinlich genaue Leibesvisitationen für die restlose Ausplünderung der Menschen, denen man noch den letzten Ohrring wegnimmt.
Klirrende Kälte und kaum frisches Wasser
In der Nacht zum 1. Dezember werden sie dann zum Nordbahnhof verbracht. Für ihr Gepäck stehen mehrere Güterwagen bereit. Ein Sortieren und Verladen in Dauerschleife. Vor einem der vollgestopften Waggons steht auch ein brauner Lederkoffer mit dem geschwungenen Schriftzug „Ruth Lax“. Das einzige fotografische Zeugnis, das von dem Mädchen bleiben wird.
Drei Tage und drei Nächte ist Ruth mit ihrer Mutter und den anderen 1011 Menschen unterwegs. Die Enge im Zug wird mit jeder Stunde bedrückender. Die Toiletten sind durch die klirrende Kälte eingefroren. Es gibt kaum frisches Wasser, gelegentlich dürfen zwei Personen die verschlossenen Wagen zum Wasserholen verlassen.
Aber da ist auch Hoffnung: Warum durften sie Werkzeug, Garten- und Küchengeräte mitnehmen? Vielleicht gibt es ja ein neues Leben am neuen Ort? Vielleicht ein besseres als in der alten Heimat? Das kann doch nicht nur ein Täuschungsmanöver gewesen sein?
Die Wahrheit ist, dass sie im vierten von insgesamt 32 Zügen sitzen, in denen von November 1941 an insgesamt 30.000 Juden aus Deutschland nach Riga und Umgebung deportieren werden. 29.000 überleben die Verschleppung nicht, sie verdursten, ersticken oder sterben vor Erschöpfung.
„Die Menschen starben wie die Fliegen“
Als der Sonderzug „Da 33“ am 4. Dezember sein Ziel erreicht, werden Edith und Ruth Lax mit den anderen Insassen unter Gebrüll und Schlägen lettischer Hilfspolizisten aus den Waggons geholt, in einem schier endlosen Fußmarsch zu ihrer Unterkunft getrieben. Der Jungfernhof ist ein furchtbarer Ort.
Die 3984 Juden, die zwischen dem 2. und 9. Dezember 1941 hier ankommen, teilen sich das Gutshaus, drei große Scheunen, fünf kleine Häuser und verschiedene Viehställe. Alle Gebäude sind so heruntergekommen, dass der beißende Wind und die Temperaturen unter minus 30 Grad ihren Weg ins Innere finden. Schnell breiten sich Krankheiten aus. „Die Menschen starben wie die Fliegen“, wird ein Überlebender später berichten.
Fast vier Monate verbringen Edith und Ruth dort. Immer wieder hören sie das Hämmern der Maschinengewehre aus den Wäldern. Weil den SS-Befehlshabern das Sterben nicht schnell genug geht, bringen sie die Menschen in „Sonderaktionen“ um.
Im Frühjahr 1942 geht ein Gerücht durchs Lager. Alte und Frauen sollen mit ihren Kindern in die nahe gelegene Konservenfabrik bei Dünamünde gebracht werden. Die Hoffnung auf ein besseres Leben erwacht wieder. Die Hoffnung aufs Überleben. Oder ist es wieder nur eine Täuschung?
Massengräber mit einer Fläche von 3000 Quadratmetern
Am 26. März machen sich Busse voller Menschen scheinbar auf den Weg in die Fabrik. Auch Ruth und ihre Mutter Edith steigen ein. Doch kurz vor Riga biegt ihr Bus ab in ein Waldstück. Es ist der Wald von Bikernieki, ein Ort der Massenvernichtung. Der Lagerkommandant Rudolf Seck hat die „nicht Arbeitsfähigen“ aussortieren lassen, darunter alle Kinder. Sie werden aus den Bussen und Lastwagen gezerrt, zu einem Graben geführt, der bereits mit Hunderten Leichen gefüllt ist. Dann müssen sie sich nebeneinander an den Graben stellen, bevor sie mit einem Genickschuss ermordet werden.
Allein bei der „Aktion Dünamünde“ werden an diesem Tag rund 2000 Menschen von deutschen SS- und Polizeiverbänden sowie lettischen Hilfspolizisten ermordet. Bis zum Herbst 1944 ereilt dort nach unterschiedlichen Quellen 35 000 bis 46 500 Jüdinnen und Juden dasselbe Schicksal.
Heute erinnert im Wald ein Mahnmal, das von Tausenden Steinen aus Granit umgeben ist, an die Opfer der NS-Zeit. Einzelne Steine markieren die 55 gefundenen Massengräber mit einer Gesamtfläche von fast 3000 Quadratmetern. In einem davon liegen Edith Lax und ihre Tochter Ruth Lax. In der Tulpenstraße 14 im Stuttgarter Lehenviertel erinnern heute zwei Stolpersteine an sie.