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Stolperstein-Initiativen Stuttgart: Vermächtnis und Mahnung

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Frank Rothfuß – 26.01.2025 – 13:32 Uhr 


Sie gehören zum Kern der in verschiedenen Stuttgarter Stadtteilen aktiven Stolperstein-Initiativen. Von links nach rechts: Karl-Horst Marquart (Vaihingen), Ute Hechtfischer (hauptamtliche Koordinatorin), Susanne Bouché (Stuttgart-Nord), Hildegard Wienand (Stuttgart-Feuerbach), Koordinator Werner Schmidt (Stuttgart-Süd), Susanne Stephan und Margot Weiß (beide Stuttgart-West). Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Zwölf Jahre haben gereicht, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Seit 21 Jahren nun arbeitet eine Gruppe engagierter Bürger daran, hier in Stuttgart die Wunden zu heilen. Wir haben ein Jahr lang an in unserer Serie an die Opfer des Nazi-Terrors erinnert.

Sie waren Geliebte, Partner, Eltern, Kinder, Großeltern, Freunde, Nachbarn. Und fielen dem Terror zum Opfer. Ein Jahr lang haben wir mit den Stolperstein-Initiativen an die Menschen erinnert, die im Dritten Reich ermordet oder vertrieben wurden. Haben ihre Schicksale erzählt und so die Daten auf den Stolpersteinen ergänzt.

Es waren zwölf Jahre des Terrors. Zwölf Jahre haben gereicht, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Seit 21 Jahren nun arbeitet eine Gruppe engagierter Bürger daran, in ihrer kleinen Welt hier in Stuttgart die Wunden zu heilen. Erinnerung zu bewahren und die Augen zu öffnen, damit wir aus der Geschichte lernen können. Ja, manchmal mag man verzweifeln, und denken, die Menschen lernen nie. Doch dann kommt wieder eine Mail aus Israel oder es kommt ein Anruf aus Australien oder den USA, man habe im Internet was über Opa und Oma gelesen, ob man mehr wisse. Denn so wie sich die Kinder und Enkel der Täter der Geschichte ihrer Familien widmen, so tun dies auch die Kinder und Enkel der Opfer. Und wie so viele Täter haben auch viele Opfer geschwiegen. Aus Scham überlebt zu haben, aus Trauer, aus Angst Narben aufzureißen.

80 Jahre ist es her, dass sowjetische Soldaten die noch lebenden Opfer des KZ Auschwitz befreit haben. 80 Jahre, die nicht reichen, alle Wunden zu heilen. Doch die Stolpersteine helfen dabei. Bei der Verlegung eines Stolpersteins für Paula Beifuß im Stuttgarter Westen waren ihre beiden Enkeltöchter, die Urenkelin und drei Ururenkel dabei. Und begegneten den Kindern und Enkeln der Täter sowie Jugendlichen der Klasse 9a des Königin-Olga-Stift, jener Schule, an der einst Paula Beifuß Abitur gemacht hat.

Diese Begegnungen sind es, die viele der Engagierten in den Stolperstein-Initiativen hervorheben. Der Lohn für das oft jahrelange Recherchieren, die Schnitzeljagd in den Archiven. „Da sind Freundschaften entstanden“, sagt etwa Susanne Bouché. Sie selbst war schon in Israel, hat Besuch empfangen. Überhaupt, wenn Verwandte von Opfern kommen, organisieren das die Initiativen das selbst. Früher war das mal anders, da gab es ein Besuchsprogramm der Stadt für Stuttgarter jüdischen Glaubens. Von 1983 bis 2001 waren 680 ehemalige Einwohner Stuttgarts und nochmals so viele Angehörige nach Stuttgart gekommen, um sich ihre alte Heimatstadt anzuschauen, in Schulklassen zu gehen, sich mit der jüdischen Gemeinde zu treffen. Es endete, weil man alle Ex-Stuttgarter jüdischen Glaubens ausfindig gemacht hatte. So war die offizielle Begründung. 350 000 Mark ließ die Stadt sich das damals pro Jahr kosten.

Doch das Interesse endete nicht. Im Gegenteil, mit der Verlegung der Stolpersteine wuchs es wieder. Weil die Angehörigen der Opfer dabei sein wollten, wenn ihrer Eltern oder Großeltern gedacht wurde, weil auch andere Opfer erst in den Blick gerieten. Zwangsarbeiter, Deserteure, Schwule, Euthanasie-Opfer, noch lange ist man nicht am Ende des Gedenkens angelangt. Den derzeit 1048 Stuttgarter Stolpersteinen werden weitere folgen.
Doch alles, was mit den Besuchen verbunden ist, die Kosten und die Organisation tragen die Initiativen privat, vom Blumenstrauß zur Begrüßung bis zum Kontakt mit Schulen. „Da wünschen wir uns Hilfe von der Stadt“, sagt Werner Schmidt, Koordinator der mittlerweile 16 Initiativen, „das würde uns als Ehrenamtlichen vieles erleichtern und auch für Verlässlichkeit sorgen.“
Die Besuche und Treffen wirken mittlerweile selbstverständlich. Aber genau das sind solche Begegnungen nicht. Es war ein ganz langer Weg. Dass viele Opfer und ihre Nachfahren bereit waren und sind zum Verzeihen, zur Versöhnung, liegt auch an den Menschen, die sich in solchen Initiativen wie den Stolpersteinen engagieren.

Die Stolpersteine erinnern, sie mahnen und sind Vermächtnis. Es sind auch Zeugnisse einer Welt, die die Nazis vernichtet haben. Lange bevor die Bomben das alte Stuttgart in Schutt und Asche gelegt hatten, haben die Nazis das weltoffene und tolerante Stuttgart abgebrannt. Vieles, was die Generationen A bis Z für modern halten, lebten ihre Urgroßeltern schon. Im Café des Hotels Marquardt trafen sich in den Zwanziger Jahren selbstbewusst „Homoeroten“, für Stuttgart gab es einen schwul-lesbischen Stadtplan.

An der Kanzleistraße, der heutigen Willi-Bleicher-Straße, war das vegetarische Lokal Ceres. Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ feierte in Stuttgart Uraufführung, der Tagblattturm, die Weißenhofsiedlung waren Avantgarde. Das größte Café im Hindenburgbau dehnte sich über drei Stockwerke aus, bot Platz für 1000 Menschen. Im Excelsior an der Ecke Büchsen- und Schlossstraße sang Lale Andersen Seemannslieder, Kabarettist Joachim Ringelnatz rezitierte immer angesäuselt in seinem Matrosenanzug anstößige Gedichte. Im Friedrichsbau durfte Josephine Baker in ihrem Bananenröckchen tanzen, anderswo war das verboten.

Die Vagabundenbewegung hatte hier ihr Zentrum, es gab die Waldheime, die Waldorfschulen, die Reichsregierung um Friedrich Ebert hatte nach dem Kapp-Putsch Asyl bekommen, der große Sozialdemokrat Kurt Schumacher begann seine politische Laufbahn hier. Der Arzt Friedrich Wolf veröffentlichte seinen Roman „Cyankali“, der das Abtreibungsverbot anprangert. Er war übrigens der Vater des späteren Stasi-Chefs Markus Wolf.

Dieses Stuttgart verschwand mit den Menschen. Nicht nur die Juden, auch die Künstler, die Widerborstigen, die Demokraten, die Schwulen und Lesben, die Sinti und Roma, die Behinderten, all jene, die nicht in die Blut-und-Boden-Norm passten, mussten in Haft, wurden gefoltert und getötet.

So ermöglichen die Stolpersteine nicht nur das Erinnern an diese Menschen, sie ermöglichen auch das Erinnern an eine Stadt, die untergegangen ist. Einen Ort, an dem viele verschiedene Menschen zusammenleben und sich aufmachen, Neues zu entdecken und entwickeln. Urbanität heißt das Modewort dazu.

Jeder einzelne der 1048 Stolpersteine in der Stadt zeigt was passiert, wenn eine Gruppe definiert, was „normal“ ist. Das ist der Kern dessen, was Werner Schmidt meint, wenn er sagt, dass auch wir im besonderen gefordert sind, aufzuklären und uns „gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus“ zu wenden.

Jeder einzelne dieser Stolpersteine erinnert an einen Menschen, der dem Terror zum Opfer fiel.