Boykottiert, ausgegrenzt, drangsaliert, deportiert
Ansprache von Siegfried Bassler anlässlich der Verlegung am 9. Juli 2020.
75.000 Stolpersteine in über 1.300 Orten in Deutschland und 22 Ländern Europas erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus.
Allein im Stuttgarter Süden hat der Künstler Gunter Demnig seit 2005 119 Stolpersteine verlegt. Heute kommen weitere Gedenksteine dazu, jetzt und hier für die Familie Behar, die seit 1922 in der Gebelsbergstraße 84 wohnte bis Januar 1939.
Avram Behar, 1882 in Konstantinopel geboren, betrieb hier einen Teppichhandel mit Teppichkunststopferei. Im Oktober 1919 heiratete er Anna Oberthan aus Mannheim, die keine Jüdin war, aber zum jüdischen Glauben übertrat. Das Ehepaar bekam zwei Töchter: Victoria geboren am 23.Oktober 1920 in Stuttgart und Eleonore geboren am 9.Mai 1922 ebenfalls hier. Das Geschäft von Avram Behar wurde schon Anfang April 1933 von den Nazis boykottiert. 1938 musste er wie alle Juden, die ein eigenes Geschäft hatten, dieses aufgeben und seinen Lebensunterhalt fortan als Hilfsarbeiter bestreiten. Am 12. November 1938, drei Tage nach der sogenannten Reichskristallnacht, in der die Nazis alle jüdischen Synagogen anzündeten und niederbrannten, wurde Avram Behar verhaftet und bis zum 28. Dezember im Konzentrationslager Dachau festgehalten. Davon hat er sich wohl nicht mehr erholt. Nach wechselnden Stellen als Hilfsarbeiter starb er am 30. September 1944 an „Herzversagen“.
Die beiden Töchter waren zwar als sogenannte Geltungsjüdinnen, d.h. im Nazijargon als Mischlinge zwischen Ariern und Juden, zunächst vor Deportation geschützt, sie wurden aber zunehmend ausgegrenzt und drangsaliert.
Victoria, die ältere Tochter, emigrierte noch vor dem Krieg mit ihrem Mann, der mit Familiennamen Borax hieß, nach Chile.
Eleonore ging von 1928 bis 1936 in die Lerchenrainschule. Sie wurde, wie mir eine ehemalige Mitschülerin mitteilte, von ihrem Klassenlehrer dauernd beleidigt… Sie wollte eigentlich eine Lehre als Kunstgewerblerin machen, musste aber, wegen ihrer jüdischen Abstammung, als Ungelernte in einem Schuhgeschäft und einer Druckerei arbeiten.
Am 12. Februar 1945, zwei Monate vor dem Ende des Krieges, wird sie noch mit dem letzten Transport aus Stuttgart mit circa 50 Leidensgenossen nach Theresienstadt deportiert. Anna Hajkova, die über ihr Leben geforscht hat, schreibt über diese Zeit: “Theresienstadt war zu diesem Zeitpunkt weniger schrecklich als in den Jahren zuvor. Im Herbst 1944 hatte die SS zwei Drittel der Häftlinge nach Auschwitz transportiert Das Ghetto war nun weniger überfüllt und die Verpflegung besser. Bis auf eine Frau haben alle 58 Menschen aus diesem letzten Stuttgarter Transport überlebt.“ Im Juni 45 schickt OB Klett zwei Busse nach Theresienstadt und lässt die Deportierten wieder holen. Nach einer abenteuerlichen Fahrt kommen sie am 24. Juni im jüdischen Durchgangslager in Degerloch an. Eleonore arbeitet noch zwei Jahre bei der israelitischen Gemeinde in Stuttgart. Im Dezember 1947 wanderte sie mit ihrer Mutter nach Santiago de Chile zu ihrer Schwester Victoria aus.
Es gibt einen Bericht über ihr Leben mit dem Titel „Das verborgene Leben der Eleonore Behar“. Mit dem Urenkel ihrer Schwester stehen wir in brieflicher Verbindung. Er wollte eigentlich zu dieser Stolpersteinverlegung kommen, durch Corona hat sich dieser Vorsatz zerschlagen. Eleonora ist am 7. Februar 2011 in Santiago de Chile gestorben.
Ich möchte mit einer schönen Geschichte schließen: die Familie Behar hatte Nachbarn in der Gebelsbergstraße 78: Die Familie Class. Frau Class war die Frau des damaligen Leiters des Evangelischen Töchterinstituts, das heute Mörikegymnasium heißt.
Sie sah die Armut ihrer jüdischen Nachbarn und schickte ihre Tochter Gertrud oft hinüber mit Suppe, Brot und Gemüse. Durch den Boykott der Nazis hatte Herr Behar fast kein Einkommen. Mit dieser Tochter Gertrud, die damals zwischen 11 und 16 Jahre alt war, habe ich letzte Woche gesprochen. Sie ist jetzt 97 Jahre alt und wohnt in einem Stuttgarter Altenheim. Sie hat mir alles bestätigt, was ich über die Samariter-Taten ihrer Mutter gehört hatte. Sie wäre gerne zu der heutigen Feier gekommen, kann das aber aus Gesundheitsgründen nicht mehr. Es war sehr selten, dass sich sogenannte Arier um Juden gekümmert haben. Es gehörte Mut dazu, gegen die Hetze der Nazis sich um Juden zu kümmern. Deshalb muss diese Tat heute unbedingt erwähnt werden. Herr Class wurde 1938 von den Nazis als Schulleiter abgesetzt. Nach dem Krieg wieder eingesetzt, aber er starb schon 1947.
Jesus sprach zu seinen Jüngern: was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.
Siegfried Bassler
Fotos von der Verlegung: Adrian Schmidt