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Moritz Fleischer, Reuchlinstr. 9

Berge von Brillen, Haaren und auch Koffern erinnern in Auschwitz an das Morden. Oben auf einem Haufen liegt der Koffer von Moritz Fleischer. Er trägt die Transportnummer 445. Ein Bild davon wurde in den “Archivnachrichten” vom März 2010 veröffentlicht.

Seine letzten verbleibenden Sachen waren in diesem Koffer untergebracht und begleiteten ihn auf seinen letzten Reisen am 22. August 1942 nach Theresienstadt und von dort am 16. Mai 1944 nach Auschwitz. In Auschwitz ist Moritz Fleischer verschollen. Ob er gleich nach der Ankunft erschossen, vergast oder erschlagen wurde, oder ob er verhungert ist, das wissen wir nicht. Der Koffer war sicher schon dabei, als Moritz Fleischer am 24. März 1941 als Witwer aus der Reuchlinstraße 9 im Erdgeschoß im Stuttgarter Westen nach Haigerloch in das jüdische Altersheim zwangsumgesiedelt wurde.

Bis dahin lag bestimmt kein leichtes Leben hinter ihm.

Moritz Fleischer wurde am 20. August 1872 in Stuttgart geboren. Ob er mit Geschwistern aufwuchs, war nicht zu ermitteln. Sein Vater war Kaufmann und hatte ein eigenes Geschäft in Stuttgart. Die Familie zog öfter um und sein Vater starb 1895, als Moritz 23 Jahre alt war. Auch er war Kaufmann und war unter anderem in der Tabakwarenbranche tätig. Vermutlich war er selbstständig.

In Karlsruhe heiratete Moritz Fleischer 1901 Scholastika Wolff. Vielleicht hatte das Paar eine Weile im Badischen gelebt, weil im Familienregister einmal vom “Badener” die Rede ist. Ab 1903 wird Moritz Fleischer in den Stuttgarter Adressbüchern aufgeführt. Von 1903 bis 1919 zog die Familie elfmal um. In dieser Zeit wurden auch die zehn Kinder geboren. Ab 1919 lebten die Eltern und die Kinder in der Schillerstraße 18. Dort wohnte die Familie Fleischer auch, als im Dezember 1924 die Ehefrau und Mutter Scholastika starb. 1927 zog dann die zweite Ehefrau Sara geb. Löbhardt mit in die Wohnung in der Schillerstraße 18 ein. 1932/33 hielten sie sich für ein Jahr in der Rotebühlstraße 92 auf. Ab 1933/34 fand die Familie Fleischer dann ein Zuhause in der Reuchlinstraße 9, wo 1935 Moritz’ zweite Ehefrau verstarb. Im September 1936 heiratete er ein drittes Mal – Frida Strauß. Nach knapp drei Jahren musste er auch dieser Ehefrau ins Grab sehen.

Bereits im Januar 1929 zog die älteste Tochter Amalie – sie war Hutmacherin –  nach München. Im August 1929 folgte der Sohn Sigmund dieser Schwester. Die Kinder Julius, Ludwig und Hanna verlegten ihren Wohnsitz im März 1930 ebenfalls zur Schwester Amalie. Max, das sechste Kind in der Geschwisterreihe, machte sich im Januar 1932 auf zu den Geschwistern nach München. Zurück blieben bei dem Vater seine Kinder Paula und Ferdinand, beide wurden später krank. Ludwig kam am 23. August 1933 wieder von München nach Stuttgart zur Familie in die Reuchlinstraße 9.

Eine frühere Nachbarin aus der Reuchlinstraße, damals ein kleines Mädchen, kann sich erinnern, wie das alte Ehepaar aus dem Fenster schaute und freundlich den spielenden Kindern zusah. In Stuttgart selbst hatte Moritz Fleischer keine Enkelkinder.

Seine Tochter Amalie heiratete im Dezember 1933 in München den Schuhmacher Leiser Chajet. Die Tochter Hanna ging im Mai 1937 von München aus nach Karlsruhe und dann im August 1939 nach London, dort konnte sie überleben.

Julius Fleischer, das fünfte Kind, meldete sich im Dezember 1934 wieder in Stuttgart an. Ob Julius dann vorübergehend beim Vater wohnte, bleibt unklar. 1939 emigrierte er mit der Schwester Amalie, deren Ehemann und dem Bruder Max, vermutlich von München aus, nach Schanghai. Auch der Sohn Sigmund hielt sich von April 1933 bis Oktober 1936 wieder in Stuttgart auf und arbeitete als Lagerist. Im Juni 1938 heiratete Sigmund in München Meta Pfefferblüth. 1939, im Oktober, wurde dem Ehepaar ein Sohn geboren, Samuel (Sami).

Anfang 1940 wohnte Moritz Fleischer noch in der Reuchlinstraße 9, die Kinder Amalie, Julius und Max waren in Schanghai, die Tochter Hanna lebte in England. Sohn Sigmund wohnte mit Ehefrau und Kind in München. Tochter Paula war zeitweise in Zwiefalten untergebracht und Ferdinand in Weißenau. Der Sohn Ludwig lebte beim Vater in Stuttgart. Moritz war zum dritten Mal Witwer geworden.

Nun folgte im Mai 1940 der Vergasungstod des Sohnes Ferdinand in Grafeneck. 1941 dann, im März, wurde Moritz nach Haigerloch in das jüdische Altersheim zwangsumgesiedelt. Der Sohn Sigmund, seine Ehefrau Meta und Sami wurden am 20. November von München aus nach Kowno (Kaunas/Litauen) ins Ghetto deportiert und gleich bei ihrer Ankunft am 25. November 1941 erschossen. Ludwig Fleischer, der noch daheim lebende Sohn, wurde am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Moritz’ Tochter Paula wurde am 13. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Die eigene Deportation von Moritz Fleischer ging von Haigerloch über Stuttgart nach Theresienstadt mit dem Transport 445 – XIII/1. Am 22. August 1942 fuhr der Zug von Stuttgart aus in Richtung Osten.

Der Sohn Max, der in Schanghai lebte, starb dort am 29. Dezember 1943. Moritz Fleischer selbst wurde am 16. Mai 1944 von Theresienstadt mit Transport E a 1904 in das Konzentrationslager nach Auschwitz überstellt. Ob er dort gleich ermordet wurde, wissen wir nicht. Inwieweit Moritz Fleischer bis zu diesem Datum das Schicksal aller seiner Kinder verfolgen konnte, bleibt offen.

Drei seiner acht erwachsen gewordenen Kinder überlebten den Holocaust. Amalie, deren Ehemann im September 1944 in Schanghai verstarb, konnte nach dem 2. Weltkrieg in die USA emigrieren, dort heiratete sie Dr. Jul. Goldstein und war in New York ansässig. Ebenso konnte der Sohn Julius in die USA auswandern. Er lebte 1952 in Chicago. Dort starb er 1961 bei einem Verkehrsunfall. Die jüngste Tochter, Hanna, überlebte in London und war dort 1952 noch gemeldet.

Im Oktober 1981 verfasste Ruth Fleischer, die Enkelin von Moritz Fleischer, wohnhaft in Chicago/USA, für die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Einträge für ihre in der Shoa umgekommenen Familienangehörigen.
Wessen Tochter Ruth Fleischer wohl ist?

Viele Fragen bleiben bei dieser Familiengeschichte noch offen.

Initiative Stolpersteine Stuttgart-West, 2010/Margot Weiß

Quelle:
Staatsarchiv Ludwigsburg, Entschädigungsakten.
Staatsarchiv Sigmaringen, Dep.44 T 1 V.29.
Stadtarchiv Stuttgart, Familienregister, Adressbücher, Deportationsliste.
Stadtarchiv München.
Landesarchiv BW, Archivnachrichten Nr. 40/März 2010.
Internationaler Suchdienst Arolsen.
Gedenkstätte Yad Vashem.
Hermann J. Pretsch (Hrsg.), “Euthanasie, Krankenmorde in Süddeutschland.”
Joachim Hahn: „Friedhöfe in Stuttgart.“ 3. Band Pragfriedhof. Israelitischer Teil, Stuttgart 1992.