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Paula Fleischer, Reuchlinstr. 9

Paula Fleischer wurde am 25.Dezember1913 in Stuttgart geboren. Sie war das siebte Kind der Eheleute Scholastika und Moritz Fleischer. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt wohnte die Familie gerade in der Schulstraße 5. Nach Paula wurden noch drei weitere Kinder geboren. Von den neun Geschwistern starben zwei Mädchen als kleine Kinder. Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Teil des Stuttgarter Pragfriedhofes. Paula wuchs mit zwei Schwestern und fünf Brüdern auf. An Spielgefährten mangelte es ihr sicher nicht. Ihre Kinderzeit war jedoch geprägt von mehreren Umzügen und dem frühen Tod ihrer Mutter. Paula war gerade elf Jahre alt, als ihre Mutter starb. Die Mutter hatte ein schweres Herzleiden, es ist daher anzunehmen, dass ihre Krankheit sich auch auf das Familienleben auswirkte.

Der Vater heiratete nach dem Tod der Mutter 1924 wieder, zwei Jahre später. Inzwischen wohnte die Familie in der Schillerstraße, wo sie dann doch etwa 12 Jahre lang verblieb. Die zehn Jahre ältere Schwester Amalie, die vermutlich eine Mutterrolle eingenommen hatte, zog 1929 nach München. Weitere Geschwister verlegten in den folgenden Jahren ihren Wohnsitz ebenfalls dorthin. Derweil wohnte die Familie Fleischer in der Reuchlinstraße 9 im Erdgeschoß. Beim Vater blieben noch Paula, der Bruder Ferdinand und der 1933 aus München zurückgekommene Bruder Ludwig. Auch die zweite Ehefrau des Vaters starb, und er heiratete 1936 ein drittes Mal. Paulas Heimatadresse war vermutlich immer beim Vater, die letzten Jahre in der Reuchlinstraße 9. Paula hatte den Beruf einer Kontoristin erlernt.

Paula Fleischer wurde krank. 1936 wurde sie in das Bürgerhospital in Stuttgart aufgenommen. Die Diagnose ihrer Krankheit war der Anlass, dass sie 1936 in der Frauenklinik in Stuttgart zwangssterilisiert wurde. Da war sie 23 Jahre alt. Eine Weile blieb sie im Bürgerhospital. 1938 wurde sie in der Heilanstalt Zwiefalten aufgenommen. Versuchsweise am 22. April 1940 entlassen, wurde sie jedoch am 3. Mai 1940 wieder eingeliefert. Es ist anzunehmen, dass diese kurzzeitige Entlassung der Anlass war, dass Paula nicht nach Grafeneck transportiert wurde. Am 27. April 1940 ging nämlich ein Schreiben in Zwiefalten ein, in dem das Württembergische Innenministerium von der Anstaltsleitung die Meldung aller untergebrachten jüdischen Patienten verlangte. Dieses Rundschreiben erging am 15. April 1940. Vielleicht hatte die Anstalt schon vor dem Erhalt des Schreibens den Inhalt erfahren. Auf jeden Fall wurde Paula Fleischer durch die kurzzeitige Entlassung vor der Auslieferung nach Grafeneck bewahrt.

In einer Ausstellung an der Zwiefaltener Anstalt zu den Euthanasie-verbrechen, schildert Martin Rexer die damalige Situation: “Paula F. kann vorerst in Zwiefalten bleiben. Sie erhält regelmäßig Briefe von ihrem Vater. Da sie die Briefe öfters nicht beantwortet, wendet sich der Vater mehrmals besorgt an die Direktion. Am 22. Juni 1942 schreibt ihm Dr. Martha Fauser: „Wir bitten Sie ganz energisch, uns nicht dauernd mit Anfragen zu belästigen. Ihre Tochter ist unheilbar krank und hier gut aufgehoben. … Wenn sich irgendetwas Besonderes ereignen sollte, erhalten Sie Nachricht.“ Vom nächsten Ereignis weiß der Vater schon im voraus Bescheid. In einem letzten Brief wendet er sich am 6. Juli 1942 noch einmal an die Direktion:

„Wie ich soeben erfuhr, soll leider auch (meine) Tochter Paula mit dem Transport fortkommen. Bitte um gütige Mitteilung, ob dieselbe mitkommt und wie Paula kommt bzw. wann dieselbe hier ankommt in Stuttgart? – Bitte höfl. um Verzeihung, daß ich Sie heute ausnahmsweise damit belästige. Herzl. Dank im Voraus. Moritz Israel F., z.Zt. Stuttgart, 1 Freimarke liegt bei“.

Am 6. Juli 1942 ergeht von der Gestapo Stuttgart die Anordnung zum Abtransport in das ‘Generalgouvernement‘. Am 10. Juli wird Paula F. von dem Gendarmeriemeister G. abgeholt. Der Transport endet für sie in Auschwitz. Seit dem 13. Juli 1942 gilt Paula F. als verschollen.” (Martin Rexer: Die “Aktion T4” in den Zwischenanstalten Zwiefalten und Schussenried. In: Hermann J. Pretsch (Hg.): “Euthanasie”. Krankenmorde in Südwestdeutschland. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte, S. 27 – 37, hier S. 35 u. 37.)

Wenige Tage später wird der Vater nach Theresienstadt deportiert. Bis dahin waren auch schon die Brüder Sigmund, Ferdinand und Ludwig in den Tod geschickt worden.

Paula Fleischer durfte nur 29 Jahre alt werden.


2010/Margot Weiß

Staatsarchiv Ludwigsburg, Entschädigungsakten.
Staatsarchiv Sigmaringen, Dep.44 T 1 V.29.
Stadtarchiv Stuttgart, Familienregister, Adressbücher, Deportationsliste.
Stadtarchiv München.
Landesarchiv BW, Archivnachrichten Nr. 40/März 2010.
Internationaler Suchdienst Arolsen.
Gedenkstätte Yad Vashem.
Hermann J. Pretsch (Hrsg.), “Euthanasie, Krankenmorde in Süddeutschland.”
Joachim Hahn: „Friedhöfe in Stuttgart.“ 3. Band Pragfriedhof. Israelitischer Teil, Stuttgart 1992.