Vielleicht ahnte Frau Klara Friedländer (geb. 8.12.1864 in Bromberg), dass es ein Abschied für immer sein werde, als sie am 23. September 1940 ihre Wohnung hier in der Birkenwaldstraße 127 verlassen musste und in die psychiatrische Abteilung des Stuttgarter Bürgerhospitals eingewiesen wurde.
Die Hintergründe dieser Maßnahme sind heute nicht mehr eindeutig festzustellen: Einerseits diagnostizierte der ärztliche Direktor des Bürgerhospitals eine schwere Zwangsneurose, starke senile Veränderungen und Verwahrlosungsgefahr, was eine Aufnahme in die psychiatrische Abteilung der Klinik notwendig mache, andererseits wurde Frau Friedländer bereits nach zwei Wochen in die offene Abteilung verlegt, „weil sie harmlos ist und keine Schwierigkeiten macht“. Zudem ist auffällig, dass die Jüdische Kultusvereinigung Württembergs (die württembergische Zweigstelle der damaligen Reichsvereinigung der Juden in Deutschland) zuvor in einem Schreiben an das Bürgerhospital darauf hingewiesen hatte, dass „das Wohnungsamt nunmehr von der immer noch recht begüterten Dame (verlangt), dass sie ihre Wohnung aufgibt“. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass bei der Einweisung in die Psychiatrie neben offensichtlichen gesundheitlichen Problemen – die alte Dame war immerhin schon 76 Jahre alt – auch rassisch-ideologische Motive eine Rolle gespielt haben. Die jüdische begüterte Witwe sollte das „arische Haus“ Birkenwaldstraße 127 verlassen…
Und dann ging auch alles sehr schnell: Im Adressbuch der Landeshauptstadt Stuttgart von 1940 wurde Frau Friedländer im Personenteil bereits nicht mehr genannt, die Wohnung wurde aufgelöst, der gesamte Hausrat im Oktober 1941 öffentlich versteigert. Damit endete nach knapp zwanzig Jahren das Wohnverhältnis der Familie Friedländer in der Birkenwaldstraße 127. Freilich war bereits zu Beginn des Kriegs hier in Stuttgart von der Familie nur noch Frau Klara übrig geblieben: Der Ehemann Martin, ein vermögender Bankier und Stadtrat, der Anfang der zwanziger Jahre mit seiner Familie aus Bromberg nach Stuttgart gekommen war, war bereits 1935 verstorben. Der älteste der drei Jungen starb noch als Baby, der Jüngste hatte sich mit der Familie überworfen und war nach Südamerika gegangen (wo er 1942 starb). Der mittlere Sohn Kurt, geboren 1888, hatte als Regierungsdirektor in Berlin gearbeitet und sich – vermutlich in den dreißiger Jahren – noch rechtzeitig nach London abgesetzt, wo er den Krieg überlebte.
Dieser Verfall der einst angesehenen Familie verbunden mit den rigiden Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen alle Juden dürften sich massiv auf die psychische und die körperliche Situation von Klara Friedländer ausgewirkt haben. Sie verbrachte ein Dreivierteljahr in der offenen Privatabteilung des Bürgerhospitals, ehe sie am 5. August 1941 laut Krankenakte „nach Hause entlassen“ wurde. Doch dieses Zuhause existierte ja – wie oben dargelegt – nicht mehr. So wurde sie zunächst in das Altersheim „Inselheim“ in Stuttgart-Berg und schließlich in die Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz verlegt. Dies muss in Zusammenhang mit einer Anordnung des Reichsinnenministeriums vom 12.12.1940 gesehen werden, wonach „jüdische Geisteskranke“ nur mehr in die von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland geführte Anstalt in Bendorf-Sayn aufzunehmen seien. Von dort ist Frau Klara Friedländer am 15. Juni 1942 achtund-siebzigjährig „in den Osten“ deportiert worden, wo sich jede Spur verliert.
Mit diesem auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamts aufgestellten Transport D 22 (dem dritten von fünf aus Bendorf-Sayn) wurde am 15. Juni 1942 ein Teil der im Rheinland lebenden Juden „evakuiert“. Dem 1.066 Personen umfassenden Transport waren „allein neun Güterwagen für die geistig behinderten Juden aus der israelitischen Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn“ angeschlossen. Die Patientinnen und Patienten waren zum Teil so gebrechlich, dass sie nur liegend transportiert werden konnten. Dies erklärt den Einsatz von „G-Wagen“ (gedeckter Güterwagen) bei dem Transport.
In der Korrespondenz des RSHA mit den Stapo-Stellen Düsseldorf, Köln und Koblenz war als Ziel des Transports das (Durchgangs-) Lager Izbica angegeben. Aus Izbica sind ab Juni 1942 mehrere Transporte in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor gegangen, so dass vermutet werden muss, dass Frau Friedländer in einem dieser Lager umgebracht wurde. Das Finanzamt Koblenz fasste das verbrecherische Geschehen am 12. Februar 1943 in einem Schreiben an die Deutsche Bank in Stuttgart wie folgt zusammen:
„…Die Jüdin Klara Sara Friedländer, Witwe des Martin Friedländer, zuletzt wohnhaft in Bendorf-Sayn, ist in das Ausland abgeschoben worden. Ihr Vermögen ist auf Grund der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 dem Reich verfallen…“.
Nichts erinnert hier mehr an das, was einmal war. Der am 29.09.2008 gesetzte „Stolperstein“ soll der fast vergessenen Frau Klara Friedländer wenigstens ihren Namen zurückgeben und uns Lebende mahnen.
Recherche und Text: Dr. Helmut Rannacher, 28.09.2008, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord.