Nathan Fröhlich und seine Familie
Als am 9. November 1938 in der Hospitalstraße in Stuttgart die Synagoge brannte, sah das der junge Hans Fröhlich. Er war mit dem Fahrrad von der Rosenbergstraße 119, wo er mit seinen Eltern und Geschwistern wohnte, auf dem Weg zu seiner Lehrstelle in Bad Cannstatt. Schnell kehrte er um, um seinen Vater zu warnen, denn er bekam mit, wie bereits jüdische Männer abgeholt wurden.
Sein Vater Nathan konnte daraufhin noch nach Frankfurt am Main entkommen. Leider kehrte er zu früh nach Stuttgart zurück und wurde am 12. November 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager nach Dachau gebracht. Bevor er ging, gab er seinem Sohn Hans seine Brieftasche mit den Worten: “Pass auf deine Mutter auf!” Am 12. Dezember 1938 wurde Nathan Fröhlich im Konzentrationslager Dachau ermordet. Sein Grab befindet sich in München.
Die Familie Fröhlich, das waren der Vater Nathan, der am 14. Juli 1883 in Ulrichstein geboren wurde, die Mutter Elise, geborene Raphael, und die drei Söhne Albert, Hans und Max. Sie zogen im Juli 1937 von Rottweil nach Stuttgart in die Rosenbergstraße 119.
Als junger Mann hatte Nathan Fröhlich in Rottweil am Neckar eine Schuhvertretung. Weil er sich in die Stadt verliebte, wie sein Sohn Hans sagt, eröffnete er dort ein Schuhgeschäft. Der Werbeslogan für sein Geschäft lautete: “Brauchst Du Schuhe? geh zu Fröhlich”. Im 1. Weltkrieg diente er als Soldat im deutschen Heer. 1919 heirateten Nathan Fröhlich und die am 1. November 1888 in Landsberg an der Warthe geborene Elise Raphael. Das erste Kind, Albert, kam am 14. Mai 1920 zur Welt. Albert war körperbehindert und bedurfte der besonderen Aufmerksamkeit und Pflege. Dieser Aufgabe stellte sich die ganze Familie mit Eifer. Am 7. August 1922 wurde der zweite Sohn geboren, Hans, der heute Henry heißt – am 5. Februar 1926 schließlich Max, der Jüngste. Der Geburtsort aller drei Kinder ist Rottweil am Neckar.
Beruflich wurde es in den dreißiger Jahren für Nathan Fröhlich auf Grund der staatlichen Vorgaben, nicht mehr bei Juden einzukaufen, in dem Städtchen Rottweil immer schwieriger, so dass er sein Schuhgeschäft aufgeben musste. Auch für die beiden Söhne Hans und Max gab es in der Schule Probleme. So erzählt Henry Fröhlich heute, dass ein Lehrer wütend wurde, als er einmal die Hand streckte, um eine Frage zu beantworten. Da schrie der Lehrer in die Klasse: “Muss der Jude alles wissen!” Die Realschule konnte er nicht weiter besuchen. Auch Max konnte in Rottweil nicht weiter zur Schule gehen, weil es dort keine jüdische Schule gab, jedoch in Stuttgart. Der älteste Sohn Albert wurde von Privatlehrern zu Hause unterrichtet.
In Stuttgart dann bekam Nathan Fröhlich als Hausmeister der Synagoge bei der jüdischen Gemeinde eine neue Arbeit. Hans/Henry begann seine Lehre bei einem Tapeten- und Matratzenmeister in Bad Cannstatt. Mit Freude ging er dieses “neue Leben in Stuttgart” an, wie er heute sagt.
Nach dem Tod des Vaters Nathan lag viel Verantwortung auf dem mittleren Sohn Hans/Henry. Das Vermächtnis des Vaters zu erfüllen, sah er als seine große Aufgabe an. Im Februar 1940 bekam er ein offizielles Visum, um in die USA auszuwandern. Über die Umstände schrieb Henry Fröhlich: “Es war niemals schwer auszuwandern, wenn man eine Einfahrt in ein anderes Land genehmigt bekommen konnte, d.h. wenn man ein Visum bekam, das zum Auswandern notwendig war. Aber dieses Visum zu bekommen war sehr schwierig. Nur ein paar Länder haben eine Einreise möglich gemacht. Die Schweiz mit viel Kapital. Die Dominican Republic mit freundlichen Beziehungen zum Konsul. Cuba mit viel “Schmiergeld” an den Konsul. Shanghai mit wenig Dokumentation aber mit schwieriger Aussicht sich anzupassen. Verschiedene andere Länder waren offiziell geschlossen, konnten aber Einwanderer sofort in Haft halten, was besser war als in Deutschland zu bleiben. USA mit Versicherungs-Garantie von direkten Blutsverwandten, so genannte Affidavit of Support und eine Eintragung auf einer Warteliste, die etwa 27.000 Visa genehmigte pro Jahr für 400.000 “applicants”.”
Henry Fröhlich konnte schließlich für den 22. März 1940 eine Schifffahrt von Genua nach USA buchen. Am 17. März 1940 verließ er Deutschland und kam am 28. März 1940 auf der “Conte di Savoia” in den Vereinigten Staaten an. Sehr schnell setzte er alles daran, seine Mutter auch in die USA zu holen. Elise Fröhlich war ein Visum versprochen worden, aber es fehlten 294 $ für die Schiffspassage. Henry Fröhlich versuchte, das Geld zusammen zu bekommen, aber niemand konnte ihm diese große Summe geben. So hatte der fast Achtzehnjährige die geniale Idee, alle vorher schon befragten Menschen nochmals aufzusuchen und zu sagen, er habe jetzt alles Geld bis auf 5 $, die ihm noch fehlen würden, zusammen. Daraufhin gaben ihm die meisten kleinere oder auch etwas größere Summen, so dass er die Überfahrt seiner Mutter bezahlen konnte. Später gab er alles an die Helfer zurück. Das Vermächtnis seines Vaters hatte er damit erfüllt und seine Mutter vor dem Konzentrations- oder Vernichtungslager gerettet. Elise Fröhlich lebte bis zu ihrem Tode 1964 in den USA. Sie starb 75jährig in Philadelphia.
Max Fröhlich, das jüngste Kind der Familie, kam im Februar 1940 als Vierzehnjähriger in die Vereinigten Staaten. Er war in ein Kindergruppenprogramm eines Pflegeheims (“Foster Home”) in Philadelphia eingegliedert worden. Sein weiteres Leben verbrachte er in den USA. Am 30. Januar 1978 starb Max Fröhlich in New York. Geheiratet hatte er nicht.
Über die letzten Wochen und Monate im Leben von Albert Fröhlich, dem ältesten Sohn der Eheleute Nathan und Elise Fröhlich, konnte trotz jahrelanger intensiver Bemühungen des Bruders Henry Fröhlich nichts Genaues in Erfahrung gebracht werden. Albert Fröhlich war ein “Euthanasie”-Opfer geworden.
Henry Fröhlich schreibt: “Der Todestag ist noch immer mysteriös.” Das Todesdatum, das vom Standesamt Rottweil erhältlich war, lautet auf 3. Dezember 1940 in Cholm (Polen). Cholm war allerdings ein Deckname. Mit ziemlicher Sicherheit wurde Albert Fröhlich in der Landesheilanstalt Grafeneck umgebracht.
Albert lebte mit der Mutter bis Ende April 1940, also bis kurz vor ihrer Abreise in die USA, in der Rosenbergstraße 119 im Stuttgarter Westen. Für die Mutter war es verständlicherweise sehr schwer, sich von ihrem Sohn Albert zu trennen. Sie konnte dies nur tun, als sie ein katholisches Heim fand, in dem körperbehinderte Kinder und Erwachsene aufgenommen wurden, dessen Name und Ort jedoch unbekannt ist. So konnte sie mit der Gewissheit Deutschland verlassen, dass ihr Sohn dort gut versorgt werde. Von den USA nahm sie im Mai 1940 Verbindung zu den Schwestern des katholischen Heimes auf, in dem Albert zu diesem Zeitpunkt noch lebte.
Bruder Henry Fröhlich berichtet, was weiter geschah: Im Sommer 1940 sei eine Kollegin des Oberrats des Israelitischen Hilfsvereins namens Ilse Wolff in den USA ankommen und habe ihm mitgeteilt, dass sie, Ilse Wolff, noch vor Schließung des Vereins ein Paket mit Kleidern und anderen Sachen von Albert Fröhlich erhalten habe. Das Kleiderpaket enthielt weder eine Rückadresse noch einen Begleitbrief. Daraus war zu schließen, dass Albert nicht mehr am Leben gewesen sein dürfte. Diese Nachricht solle aber vertraulich behandelt werden, denn sie wusste, dass dieses Wissen für die Mutter unerträglich gewesen wäre. Daher musste die Familie annehmen, dass Albert zwischen Mai und September 1940 ermordet wurde. Der genaue Todestag und der -ort sind weiter ungeklärt.
Einmal schrieb Henry Fröhlich in einer E-Mail: “Ich bin übrig geblieben um dies alles aufzuschreiben.”
Zur Verlegung der Stolpersteine für den Vater Nathan und den Bruder Albert Fröhlich am 24. September 2007 kamen Henry Fröhlich mit Ehefrau Marian und Sohn Peter nach Stuttgart in die Rosenbergstraße 119.
Nachtrag 26.03.2024
Frau Birgit Aman schrieb aus Gmünden am Main, Unterfranken:
„Unter den Euthanasieopfern befand sich der jüdische Junge „Albert Fröhlich“. Er wurde am 4.9.1940 mit 5 weiteren Zöglingen des Josefshauses nach Egelfing-Haar verlegt. Von dort aus, am 20.9.1940 mit einem jüdischen Sammeltransport nach Schloss Hartheim abtransportiert und noch am Ankunftstag vergast.“
Quelle: Henry Fröhlich
Recherche: Margot Weiß – Initiative Stuttgart-West/ Oktober 2007 und 2024