Josefine Glück: Der Familie entrissen
Josefine Glück wurde am 6. Dezember 1872 in Wien geboren. Ihre Eltern Hermann und Rosalie, geborene Fuchs, waren jüdischer Herkunft. Sie waren schon 1886 verstorben, als Josefine erst 14 Jahre alt war. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Ungarn. Sie selbst war Schauspielerin und blieb zeitlebens ledig. Ihr nicht ehelicher Sohn Hermann Philippus Glück entstammte einer Beziehung mit dem in Schleswig am 6. März 1878 geborenen Otto de Lemos. Hermann Glück berichtete später, dass seine Mutter Josefine ihr Leben unter „größten Opfern“ „hauptsächlich“ für ihn eingesetzt habe, weshalb er mit ihr in einem „innigen Verhältnis“ verbunden war und sie deshalb seit 1930 mit ihm und seiner Frau „in engster häuslicher Gemeinschaft“ lebte. 1929 konvertierte Josefine in die Neuapostolische Kirche. Doch trotz ihres christlichen Glaubens war sie allen diskriminierenden und menschenunwürdigen Maßnahmen, die gegenüber Juden angewandt wurden, ausgesetzt. Nachdem am 1. September 1941 angeordnet worden war, dass Juden das Zwangskennzeichen für Juden, den „Judenstern“ tragen mussten, war davon auch Josefine Glück betroffen. Ihre Lebensmittelkarten waren mit einem „J“ gekennzeichnet. Damit erhielt sie in den meisten Geschäften keine Lebensmittel mehr und musste seit April 1941 im sogenannten „Judenladen“ in der Seestraße einkaufen. Dort war das Angebot überaus begrenzt und der Hin- und Rückweg für die alte Frau mühselig, da es fast fünf Kilometer waren. Denn Juden war die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel seit 1939 verboten. Zudem durften jüdische Mitbürger nach 20.00 Uhr nicht mehr auf die Straße. Schließlich musste ihre Wohnung mit einem „J“ gekennzeichnet werden, als Zeichen dafür, dass dort eine Jüdin lebte. Am 8. Mai 1942 musste Josefine Glück die Wohnung in der Heusteigstraße 73 für immer verlassen, in der sie mit ihrem Sohn Hermann, der Schwiegertochter Eugenie Katharina, geborene Müller und der 1929 geborenen Enkelin Ingeborg lebte. Sie wurde in das jüdische Altersheim Herrlingen bei Ulm zwangseingewiesen. Dort herrschten beengte Verhältnisse mit prekärer Lebensmittelversorgung. Mitte Juni 1942 wurde sie in das jüdische Altersheim Oberstotzingen im heruntergekommenen Oberstotzinger Schloss verbracht. Doch das waren nur Zwischenstationen des Leidens. Denn am 19. August 1942 wurde sie zur Sammelstätte in Stuttgart-Killesberg gebracht. Von dort erfolgte am 22. August 1942 die Deportation nach Theresienstadt. In diesem Ghetto verstarb sie dann nach der amtlichen Todeserklärung am 28. März 1943 im Alter von 70 Jahren. Dabei befand sie sich beim Abschied von ihrer Familie noch in einer guten körperlichen und seelischen Verfassung, wie ihr Sohn nach dem Krieg berichtete.
Demütigung: Der „Halbjude“ Hermann Glück
Ihr Sohn Hermann Glück wurde am 17. August 1901 Stuttgart geboren. Er trug damit auch die Staatsangehörigkeit seiner Mutter und war somit ungarischer Staatsangehöriger. Seit dem 23. November 1927 war Hermann Glück mit Eugenie Katharina, geborene Müller, verheiratet, die am 8. Februar 1899 ebenfalls in Stuttgart geboren worden war. Das Ehepaar hatte eine Tochter namens Ingeborg, die 1929 geboren wurde. Glück war Seelsorger in der neuapostolischen Gemeinde Stuttgart-Süd. Doch nach der nationalsozialistischen Rassenterminologie war er „Mischling ersten Grades“. Dies verhinderte die berufliche Karriere des Kaufmanns.
Glück hatte eine Ausbildung zum Kaufmann gemacht und war von 1921 bis 1925 in der Industrie- und Handelskammer in Hannover als Bürogehilfe tätig. Von 1925 bis 1934 war er Registraturbeamter und Stenograph bei der Industrie- und Handelskammer in Stuttgart. Doch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 fand auch für die Handelskammer ihre Anwendung. Glück war der einzige „nichtarische“ Beamte in der Handelskammer. Seine Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit wurde noch Ende 1933 durch seinen Arbeitgeber, der Industrie- und Handelskammer in Stuttgart, hervorgehoben. Sie erwirkte Verlängerungen seines Dienstverhältnisses bis Ende September 1934. Doch schließlich blieb seinem Arbeitgeber nichts anderes übrig, als ihn als „nichtarischen“ Beamten zu entlassen. Dabei verlor er auch seine Dienstwohnung und zog anschließend in die Heusteigstraße 73.
Wie sehr Hermann Glück von der Industrie- und Handelskammer Stuttgart geschätzt wurde, ergibt sich aus einem Schreiben seines Präsidenten Fritz Kiehn, der sich dafür einsetzte, dass Glück bei der Daimler-Benz AG wieder eine, allerdings untergeordnete, Stelle bekam. Dieser sprach deutlich an, was er dachte: „Ich würde nie daran denken, Herrn Glück abzubauen, wenn ich nicht durch die Vorschriften des Gesetzes aus selbstverständlichen Gründen gezwungen wäre.“
Die berufliche und familiäre Situation war nicht das Ende der Demütigung. Mit Datum vom 13. November 1944 erhielt Hermann Glück eine Verfügung von der Staatspolizeileitstelle Stuttgart. Sie enthielt die Anweisung, dass er sich am Dienstag, 21. November 1944 um 5.00 Uhr morgens in Bietigheim im Wartesaal (der Reichsbahn) einzufinden habe. Er solle dazu das nötige Arbeitsgerät und Marschverpflegung für drei Tage mitbringen, da er sich für einen „Arbeitseinsatz bei der „OT. [Organisation Todt]“ zu stellen habe. Unterzeichnet war das Schreiben von Karl Helmuth Koschorke (1905-1980), der von Juni 1944 bis zum 30. Januar 1945 stellvertretender Leiter der Staatspolizeileitstelle in Stuttgart war. Auch ein ärztliches Attest über seinen schwachen Gesundheitszustand konnte die Gestapo nicht umstimmen. Hermann Glück wurde in ein Lager nach Wolfenbüttel deportiert. Dort hatte er einen schweren Betriebsunfall wegen einer Herzschwäche.
Hermann Glück hat den Krieg zwar überlebt, doch seine einst hoffnungsvolle berufliche
Karriere war unterbrochen worden; er war mittellos. Gesundheitlich war
er seit seiner Zwangsarbeit schwer angeschlagen. Jahrelang musste er gepflegt werden. Schon im März 1945 wurde bei dem Mann im besten Lebensalter chronischer Gelenkrheumatismus, eine Herzmuskelentzündung sowie Erschöpfung durch Unterernährung diagnostiziert. Wochenlang hatte er Fieber. Dann wurde Lungentuberkulose festgestellt. Zahlreiche Klinikaufenthalte und ärztliche Behandlungen waren die Folge. Nicht zuletzt sein prekärer gesundheitlicher Zustand führte dazu, dass Hermann Glück nur 67 Jahre alt wurde.
Trotz des schweren Schicksals seiner Familie schrieb Hermann Glück am 2. Mai 1945 über seine Kirche: „Während der ganzen Jahre [der] nationalsozialistischen
Herrschaft hat man mir und meiner Familie sowie noch einem weiteren grösseren Personenkreis in gleichen Verhältnissen so viele Liebe, Hilfe, Unterstützung in Geld und Lebensmitteln, Rat und Trost seitens der Mitglieder und führenden Persönlichkeiten der
Gemeinde überall im Reich zu teil werden lassen.“
Recherche und Text: Dr. Karl-Peter Krauss
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg; Archiv der Neuapostolischen Kirche Nord- und Ostdeutschland, Hamburg; Foto: Martin Lange, Dusslingen.