Jenny Grimminger – eine vergessene Tote beim Widerstand der Weißen Rose
Im jüdischen Teil des Stuttgarter Pragfriedhofs, nicht weit von der Martinskirche, steht ein Grabstein mit den Namen fünf jüdischer Frauen. Drei von ihnen sind hier beigesetzt: die Mutter Sidonie Stern und die Urnen ihrer Töchter Mina und Julie, die 1939 nach England und 1947 in die USA emigriert sind. Die Töchter Jenny und Senta sind hier nicht begraben: sie haben „ein Grab in den Lüften…“ (Paul Celan, „Todesfuge“).
Jenny – als Kind Jeni genannt – kam am 26. November 1895 in Michelbach an der Lücke –heute ein Ortsteil von Wallhausen, Kreis Schwäbisch Hall- als erstes Kind der jüdischen Eltern Jakob und Sidonie Stern, geborene Mezger, auf die Welt. Michelbach gehörte damals zu den Gemeinden in Württemberg, die wegen des relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteils mit bis zu 40 % als „Judendörfer“ galten. In Michelbach wohnten Nichtjuden und Juden fast 250 Jahre friedlich miteinander; im November 1938 wurde die heute noch stehende ehemalige Synagoge nicht einmal beschädigt. Juden mit Namen Stern waren in Michelbach über viele Generationen ansässig.
Jenny besuchte in Michelbach noch ein Jahr die jüdische Grundschule, deren Schülerzahl wegen der zunehmenden Abwanderung der Juden in größere Orte oder ins Ausland bald unter 10 sank. Im Jahr 1903 entschloss sich auch Jakob Stern zum Wegzug und zog mit der Familie ins nahe Crailsheim, wo er dank seines guten Einkommens als Güterhändler eine große Wohnung für die bald achtköpfige Familie beziehen konnte.
Nach dem Ersten Weltkrieg war Jenny auf dem Oberamt Crailsheim angestellt. Vermutlich lernte sie dabei den ebenfalls hier tätigen Eugen Grimminger kennen. Der drei Jahre ältere, am 29. Juli 1892 in Crailsheim geborene Sohn eines Lokomotivführers, hatte als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 teilgenommen, aus dem er mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse – und als überzeugter Pazifist zurückkehrte. Nach der Hochzeit am 29. August 1922 in Stuttgart, die bei Grimmingers Verwandtschaft anfangs wenig Freude auslöste und bei vielen Crailsheimer Freunden und Bekannten auf Ablehnung stieß, zog das junge Paar nach Stuttgart. Der ausgebildete Verwaltungsfachmann war vom Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in der Johannesstraße 86 als Buchprüfer (Revisor) angestellt worden. Die Ehe blieb kinderlos, was freilich im Blick auf das Schicksal der beiden eher ein glücklicher Umstand war. Da Eugen Grimmingers Leistungen offenbar um einiges über das bloße Prüfen der Buchhaltung der Genossenschaften hinausgingen, wurde er schon 1925 als „Molkereiinspektor“ für alle Molkereien des Verbands zuständig und 1930 zum Oberrevisor und Leiter der gesamten Prüfungsabteilung ernannt.
1926 bezogen Grimmingers eine größere Wohnung in Stuttgart-Untertürkheim, Esslinger Straße 39. Ein Foto aus dem Jahr 1928 zeigt das Ehepaar im Urlaub in der Schweiz, ein Hinweis darauf, dass der gehobene Lebensstandard noch nicht von der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Lage bedroht war. In den folgenden Jahren verdunkelte sich jedoch der politische Horizont immer mehr, als die Nationalsozialisten ihren Machtanspruch immer lauter und mit immer brutaleren antijüdischen Parolen durchzusetzen begannen. Jenny und Eugen Grimminger standen dem Nationalsozialismus von Anfang an ablehnend gegenüber. Sein Welt- und Menschenbild beruhte auf einer liberalen und humanen Grundeinstellung, wie sie in einem Text deutlich wird, den er bereits 1922 verfasst hat: „Wenn endlich sich der Mensch zum Menschen finden wollte, wenn sie sich -alle Menschen auf der ganzen Welt- als Brüder fühlten und einer dem anderen die Gleichberechtigung nicht absprechen wollte, dann würden Krieg und Morden aus der Welt und Hass und Missgunst verschwinden… Mensch sein im wahrsten Sinn des Worts, das ist die Höhe, aus der Lichtes Fülle flutet, dahin müssen wir“, so Armin Ziegler in seinem Buch über Eugen Grimminger, S. 35. Solche geradezu weltbügerlichen Ideen waren natürlich mit der nach 1933 veränderten politischen Lage nicht in Einklang zu bringen, und Grimminger war nicht bereit, seine Grundsätze aufzugeben, also z. B. den Kontakt mit jüdischen Mitmenschen zu unterlassen. Und seine Frau Jenny konnte absolut sicher sein, dass ihr Mann nicht daran dachte, sich einer Fortsetzung seiner beruflichen Karriere halber von ihr scheiden zu lassen. So nahm er es –wenn auch nicht ohne Widerspruch- hin, dass er seinen Posten beim Genossenschaftsverband am 1. Mai 1935 aufgeben musste – „wegen jüdischer Versippung“. Bezeichnend für die in Crailsheim immer noch verbreitete Ablehnung seiner Heirat war ein noch wenige Tage vorher bei der NS-Landesbauernschaft eingegangenes Schreiben der Crailsheimer NSDAP-Kreisleitung, in dem gefordert wurde, den „merkwürdigen Volksgenossen, jüdisch versippt“ (zitiert nach Ziegler, S. 61), aus staatlichen Ämtern zu entlassen.
Im gleichen Jahr zogen Eugen Grimminger und seine Frau Jenny in die Altenbergstraße 42 um. Er strebte nun eine selbstständige Position an und gründete 1937 als „öffentlich vereidigter Buchprüfer“ in der Tübinger Straße 1 ein Treuhand- und Beratungsbüro. Er benützte seinen Tätigkeitsbereich auch dazu, politisch Verfolgten mit –auch gefälschten- Papieren zu helfen, z. B. bei der Flucht in die Schweiz. Diese subversive Aktivität ihres Mannes verfolgt Jenny Grimminger mit großer Besorgnis, die noch zunahm als am 1. Dezember 1941 ihre verwitwete jüngere Schwester Senta Meyer mit ihren vier Kindern –Gertrud 19, Lore 16, Fritz Jakob 14 und Ilse 11 Jahre alt – vom Killesberg aus „nach dem Osten evakuiert“ wurde und Jenny Monat für Monat vergeblich auf ein Lebenszeichen hoffte. Sie hat nie erfahren, dass alle –Schwester, Nichten und Neffe- am 26. März 1942 in dem blutigen Massaker im Wald von Bikernieki bei Riga erschossen wurden.
In diesem Jahr 1942 nahm das Verhängnis seinen Lauf: zunächst für Eugen Grimminger, etwas später auch für seine Frau. Es begann damit, dass ein Bekannter aus Grimmingers Crailsheimer Zeit, der damalige Bürgermeister von Ingersheim nahe Crailsheim, Robert Scholl, der nach 1933 ein Treuhandbüro in Ulm übernommen hatte, wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“ denunziert und zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Auf seine Bitte hin erklärte sich Grimminger bereit, Scholls Büro in Ulm bis zu dessen Freilassung zu betreuen. Da sich Büro und Wohnung Scholl im gleichen Haus befanden, lernte Grimminger Scholls Kinder Inge, Hans und Sophie und über sie alsbald auch die Ziele der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ einiger Münchner Studenten kennen. Als Jenny Grimminger davon erfuhr, bedrängte sie ihren Mann, sich nicht an dieser Verschwörung zu beteiligen und nicht sie und sich selbst in große Gefahr zu bringen. Eugen Grimminger erklärte sich jedoch bereit, die Gruppe in ihren Bemühungen um ein baldiges Ende des Krieges finanziell zu unterstützen. Bei einem Besuch Hans Scholls in der Tübinger Straße im November 1942 übergab Grimminger ihm 500 Reichsmark, denen weitere Beträge folgten. Seine Mitarbeiterin Tilly Hahn, geborene Waechtler, unterstützte ihren Chef tatkräftig und fuhr mehrmals zur Übergabe größerer Summen nach München. Die Übergabe eines Vervielfältigungsapparats am 18. Februar 1943 scheiterte jedoch, weil die Gestapo früher in Hans Scholls Wohnung war und ihn wegen der mittäglichen Ausstreuung von Flugblättern in der Universität verhaftete. Diese spontane, riskante Aktion war es, die den Stein ins Rollen brachte. Als weitere Verhaftete verhört wurden, geschah das, was Jenny Grimminger befürchtet hatte: es fiel der Name Eugen Grimminger. Am 2. März erschienen Gestapobeamte, um Grimminger zu verhaften und ihn nach München zu verbringen. An diesem Tag sahen Jenny und Eugen Grimminger einander zum letzten Mal. Der 1. Senat des Volksgerichtshofs, der unter dem Vorsitz des Roland Freisler in München tagte, verurteilte am 19. April 1943 Eugen Grimminger wegen Hochverrats zu zehn Jahren Zuchthaus, verbunden mit zehn Jahren Ehrverlust- obwohl der Vertreter der Anklage die Todesstrafe gefordert hatte. Grimmingers Ehefrau war schon am 10. April, also noch vor der Verurteilung ihres Mannes, in der Altenberg Straße verhaftet worden – sie besaß keinen „Mischehe-Schutz“ mehr, und das zu einem Zeitpunkt, als die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden durch das NS-Regime das größte Ausmaß annahm: ihr war Jenny Grimminger nun in vollem Sinn des Wortes schutzlos ausgeliefert. Sie wurde zunächst in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert, dann zu einem nicht bekannten Zeitpunkt nach Auschwitz verschleppt. Dort soll sie, wie die Leitung des Lagers der Gestapo in München am 13. Dezember 1944 mitteilte, am 2. Dezember 1943 an völliger Auszehrung bei einem Darmkatarrh verstorben, eingeäschert und im Urnenhain des Krematoriums beigesetzt worden sein. Bedenkt man, dass diese angebliche Todesursache in zahllosen Todesmeldungen aus den NS-Lagern stand, dann liegt die Vermutung – wie sie auch Eugen Grimminger vertrat – durchaus nahe, dass Jenny Grimminger den gleichen Tod starb wie Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder – durch Ersticken in einer Gaskammer.
Eugen Grimminger saß bis April 1945 im Zuchthaus Ludwigsburg ein. Als er dort im Januar 1944 die Nachricht vom Tod seiner Frau erhielt, bekam er schwere Depressionen und unternahm einen Selbstmordversuch. Doch es war nichts mehr zu ändern. – Grimminger wurde 1945 Präsident des Landesverbands landwirtschaftlicher Genossenschaften in Stuttgart. 1947 heiratete er seine langjährige Mitarbeiterin Tilly Hahn. Nach seiner Pensionierung 1958 wurde er ein Verfechter des Tierschutzes, als langjähriger Vorsitzender des Tierschutzvereins Stuttgart und als Gründer der „Grimminger-Stiftung“, die sich um die Erforschung und Bekämpfung auf den Menschen übertragbarer Tierkrankheiten bemüht. Er starb 1986. Der eingangs erwähnte Gedenkstein im jüdischen Teil des Pragfriedhofs wurde auf seine Veranlassung errichtet.
An Jenny Grimminger erinnert ein StolperKunst-Video der Künstlerin Sarah Kreiß. Den Videoclip finden Sie hier.
Recherche und Text: 2006, Franz Schönleber, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Süd.
Quellen: Stadtarchiv Stuttgart
Bestand So 127 (Berichte gesammelt 1960/61 von Alfred Tischendorf im Auftrag des Bürgermeisteramts der Stadt Stuttgart, fortgesetzt von Maria Zelzer):
Zitierte Literatur:
Sauer, Paul: Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945. Teil II. Stuttgart 1966. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Band 17)
Sauer, Paul: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit. Stuttgart 1969. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Band 20)
Strauß, Walter (Hrsg.): Lebenszeichen. Juden aus Württemberg. Gerlingen 1982.
Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch. Hrsg. von der Stadt Stuttgart. Stuttgart (1964). (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Sonderband)
Ziegler, Armin: Eugen Grimminger – Widerständler und Genossenschaftspionier. Hrsg. von der Grimminger-Stiftung für Zoonosen-Forschung. Crailsheim 2000.
Sauer, Paul: Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945. Teil II. Stuttgart 1966. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Band 17)
Sauer, Paul: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit. Stuttgart 1969. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Band 20)
Strauß, Walter (Hrsg.): Lebenszeichen. Juden aus Württemberg. Gerlingen 1982.
Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch. Hrsg. von der Stadt Stuttgart. Stuttgart (1964). (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Sonderband).