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Gertrud Haarburger, Augustenstr. 49

Gertrud Haarburgers Heimat war der Stuttgarter Westen.
Am 6. April 1874 wurde sie als Gertrud Uhlman in Stuttgart geboren.  Ihre Eltern, David und Elise Uhlman, wohnten in der Sophienstraße 36.  Der Vater hatte eine Tuchgroßhandlung in der Seestraße 6. Am 4. Juli 1895 heiratete sie den 31jährigen Kaufmann Sigmund Haarburger.  Er betrieb eine Zigarrengroßhandlung in der Reinsburgstraße 5.  Seit 1915 lebte das Ehepaar in einer großen Wohnung in der Augustenstraße 49 im 3. Stock.  Im gleichen Haus befand sich auch die Zigarrenhandlung.  Zwei Kinder wurden dem Ehepaar geboren:  1896 eine Tochter Marie, diese wurde nur drei Tage alt.  Am 10. Februar 1898 kam die Tochter Martha zur Welt. 1904 hatte Gertrud Haarburger eine Totgeburt.

Sigmund Haarburger starb bereits im November 1921 in Stuttgart.  Tochter Martha wurde Chemikerin und hatte eine gute Stelle bei der Firma Siegle & Co., Farbenfabrik in Feuerbach, bis die Auswirkungen des nationalsozialistischen  Systems das Leben von Mutter und Tochter massiv beeinträchtigten.

Die Tochter erinnert sich an die letzten Lebensjahre ihrer Mutter:

“1939.  Meine Mutter und ich müssen unsere Wohnung verlassen –  wir hatten 25 Jahre darin gelebt. Nun müssen wir in das Haus eines jüdischen Besitzers ziehen und uns im Wohnraum einschränken.  Das ist nur der Anfang von Beschränkungen und Verboten, die von Monat zu Monat zahlreicher und einschneidender werden. (…)
Die Verbote wurden aber von den nichtjüdischen Mitbürgern nicht immer beachtet.  Als die uns zugeteilten Lebensmittel knapp waren, gab einmal eine fremde Frau meiner Mutter im Vorbeigehen ein Viertel Butter in die Hand.  Hin und wieder fanden wir vor unserer Tür einen Korb mit Gemüse, Obst und Eiern.  Das war Mangelware, besonders für uns.  Manchmal wurde sie uns auch von treuen Menschen in die Wohnung gebracht, in eine Wohnung, die Nichtjuden nicht hätten betreten dürfen.  Aber das waren nur Lichtblicke in düsterer Hoffnungslosigkeit.”

Mutter und Tochter wohnten dann vom 31. August 1939 bis 1942 in der Gustav-Siegle-Straße 3, einem sogenannten Judenhaus. Der Judenstern mußte vom 19. September 1941 an getragen werden.

“Januar 1942.  Wir werden gezwungen, unseren Haushalt aufzulösen.  Meine Mutter kommt in ein “Heim” nach Dellmensingen bei Ulm.  Ich finde nach langem Suchen Unterkunft in einer Mansarde.”

Nach Dellmensingen konnten die Menschen nur sehr wenig mitnehmen.  Meist nur ein Bett, einen Stuhl, einen Tisch und einen Schrank.  Im August 1942 wurde Gertrud Haarburger von Dellmensingen wieder nach Stuttgart zurückgebracht, in das Sammellager auf dem Killesberg.  Die Tochter schreibt:

“Mehr als 1000 alte jüdische Menschen – darunter meine Mutter, Gertrud Haarburger – werden nach Theresienstadt (Tschechoslowakei) deportiert.  Ich kann, nach vieler Mühe als Helferin eingesetzt, von meiner Mutter Abschied nehmen. Die alten Menschen sitzen elend auf der Erde, auf Decken oder Matratzen.  Ihre Gesichter sind von Leid gezeichnet.  Aber kein Wort der Klage ist von ihnen zu hören. Ruhig, mit Würde tragen sie ihr Schicksal.”
Der Zug fuhr am 22. August nach Theresienstadt ab.

Tochter Martha Haarburger kam mit einem Transport 1943 ebenfalls nach Theresienstadt.  Über den Anfang dort und das Schicksal ihrer Mutter schreibt sie folgendes:

“Juni 1943 bis Juni 1945: KZ Theresienstadt.  Das ist der erste Eindruck beim Verlassen des Zuges im Lager:  Der Lagerkommandant, SS, steht mit gespreizten Beinen auf dem Bahnsteig und knallt mit der Reitpeitsche.  Wir werden nach verbotenem Gepäck und Geld durchsucht.  Auf einem Dachboden werden wir untergebracht.  Unser Lager ist ein Jutesack, mit Sägespänen gefüllt, auf die Erde (Steinboden) gelegt.  Die Säcke liegen nebeneinander, Männer und Frauen sind nicht getrennt.  Im Hause ist keine Wasserleitung, die sanitären Anlagen sind völlig unzureichend.

Ich suche meine Mutter. Ich finde sie nicht.  Sie ist 3 Monate vorher gestorben.  Eine der Stuttgarter jüdischen Krankenschwestern (gleichfalls Häftling) berichtet mir:
Mit anderen aus der gleichen Kaserne kam meine Mutter völlig verlaust zur Entwesungsanstalt.  Dort mußten sich die alten Leute ganz ausziehen, in der Februarkälte stundenlag bei offenen Fenstern warten, wobei die SS ständig durch die Räume lief, die Türen aufriß und wieder zuschlug.  Die alten Menschen saßen fortwährend in der eisigen Zugluft.  Meine Mutter bekam eine Lungenentzündung und starb völlig entkräftet – sie wog noch 29 Kilo – am 24. März 1943.”

Der durch die gänzlich ungenügende Ernährung und den Aufenthalt in überbelegten, verwanzten und verlausten Räumen geschwächte Körper hatte dieser Strapaze nicht standhalten können.

Die Tochter Martha überlebte Theresienstadt und kam nach Stuttgart zurück. Hier arbeitete sie noch als Verlagslektorin.  Zeit ihres weiteren Lebens war sie krank und kämpfte um Entschädigung für die erlittene gesundheitliche Einbuße. 1972 starb Martha Haarburger.  In ihren Berichten schrieb sie zum Schluß:

“Was ein Mensch, dem das Letzte, die Ermordung, erspart geblieben ist, in diesen Jahren an Erniedrigung, Leid, Krankheit, Angst, Verzweiflung durchgemacht, welche Bedrückung und Pein ihm der Anblick hilfloser, gequälter unschuldiger Menschen bereitet hat – das läßt sich nicht schildern.”

Quellen:
Stadtarchiv Stuttgart.
Hauptstaatsarchiv Ludwigsburg: Entschädigungsakten.
Maria Zelzer: “Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden”, S.230 ff.
Standesamt Stuttgart.
 

Frühjahr 2008
Margot Weiß
Stolperstein-Initiative Stuttgart-West