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Lina Hatje, Karl-Kloß-Str. 40

Lina Hatje, geboren in eine deutsche jüdische Familie, verheiratet mit einem deutschen nicht-jüdischen Mann, hätte die schlimme Zeit des ‘Dritten Reiches’ überleben können, im Schutz einer sogenannten privilegierten Mischehe. Ein kleiner Anlass genügte aber, um in die Fänge der stets lauernden Gestapo zu geraten, für einen jüdischen Menschen gab es dann kein Entrinnen.

Lina Russ, 1888 in Breslau geboren, ging nach Hamburg, um dort als Näherin zu arbeiten. Sie heiratete 1914 in Altona Johann Friedrich Hatje, den sie im Gewerkschaftshaus kennen gelernt hatte. Soziales Anliegen war ihnen gemeinsam, sie gehörten beide der SPD an. Johann Hatje war nach dem Ersten Weltkrieg zuerst Vorsitzender im Hauptbetriebsrat der Eisenbahn in Berlin, weshalb die Familie 1925 dorthin umzog. 1930 wurde er als Generalsekretär bzw. Bezirksleiter der Eisenbahner-Gewerkschaft nach Stuttgart berufen.  

Noch in Altona waren die beiden Kinder geboren, 1915 Sohn Gerhard, 1920 Tochter Elsa.

In Stuttgart wohnte die Familie auf dem Weißenhof, der gerade erst, 1927, eingeweihten  Siedlung, avantgardistisch und damals unbeliebt bei den meisten Bürgern.

Lina Hatje mit den Kindern Elsa und Gerhard

Lina lebte sich überall schnell ein, pflegte die Kontakte mit den Nachbarn, schloss neue Freundschaften und bewirtete mit großer Freude die vielen Gäste. Sie war eine liebevolle Ehefrau und Mutter. Tochter Elsa erinnert sich: “Wenn ich an meine Mutter denke, wie sie in jenen Jahren war, dann sehe ich sie im Sommer auf dem Balkon sitzen, braungebrannt und zufrieden … Es ging uns gut. Diese glücklichen und sorglosen Jahre fanden durch die Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 ein jähes Ende.” 

Johann Hatje kam als SPD-Mitglied und Gewerkschaftler im Mai 1933 für eine Woche in die “Büchsenschmiere”, das Gefängnis in der Büchsenstraße. Nach Auflösung der Gewerkschaften wurde er arbeitslos, verdiente das Notwendigste als Reisender, Arbeiter, Schweißer, Packer, Expedient …

Lina Hatje Kurz Wohnhaus1934 war die Familie Hatje gezwungen, aus der zu teuer gewordenen Wohnung am Weißenhof nach Heslach umzuziehen, sie wohnte nun in der Richthofenstraße (heute Karl-Kloß-Straße) 40.

Tatkräftig verdiente Lina in Heimarbeit Geld dazu, sortierte Briefpapier in Mappen und Kassetten, nähte Tornister und Brotbeutel für die Wehrmacht – ein absurdes Tun: Als Jüdin half sie bei der Aufrüstung des Staates mit, der sie später ermordete! 

Am 23. Dezember 1942, kurz vor Weihnachten und am Geburtstag ihres Mannes, begann der Leidensweg von Lina Hatje. Ihr Mann war ins Kino gegangen, wohin seine Frau als Jüdin ja nicht mitgehen durfte, als ein Polizist an der Tür klingelte und eine Vorladung zur Gestapo brachte. Umgehend fuhren Mutter und Tochter zur Gestapo-Zentrale ins “Hotel Silber” (Dorotheenstr. 10). Man behielt die Mutter gleich da.

Anlass für die Verhaftung war eine Weihnachtsgans, die einem Nachbarn vom Balkon gestohlen worden war. Auch andere Frauen wurden zum Verhör vorgeladen, durften aber nach Verwarnungen wieder nach Hause gehen. Durch das “J” in Lina Hatjes Kennkarte aber war ihr Schicksal besiegelt. Die Tochter Elsa durfte sie nach Beantragung einer Sprecherlaubnis nach einigen Tagen sehen, im  Beisein einer Schreibkraft und eines SS-Mannes. Sie schreibt: “Wir konnten zunächst gar nicht reden, wir haben nur geweint. Meine Mutter war eine große stattliche Frau mit einer aufrechten, man kann ruhig sagen stolzen Haltung. Da saß sie nun in diesem Büro auf dem Stuhl – ich weiß nicht, was man in jenen Tagen mit ihr gemacht hatte, ich kann es nicht anders ausdrücken, sie war eine gebrochene Frau.” Sie sprachen über Banales, über die eingeweichte Wäsche, die sie bei der Heimkehr fertig machen würde und über das Eingemachte im Keller, das sie alles essen sollten. “Dann weinten wir nur noch, und ich musste gehen. Es war das letzte Mal, dass ich meine Mutter sah.”

Anfang Januar 1943 kam sie in das “Frauenarbeitserziehungslager” nach Rudersberg im schwäbischen Wald, wo sie als Jüdin besonders schlecht behandelt wurde, wie eine aus dem Lager entlassene Frau später der Tochter erzählte.

Die nächste und letzte Nachricht an Mann und Kinder kam vom Transport nach Auschwitz. Auf einer Karte mit Datum vom 21.2.1943 und Poststempel “Plauen im Vogtland” bat die Mutter, ein Gesuch einzureichen, was der jüdische Anwalt Dr. Benno Ostertag auch tat. Als Antwort musste er Johann Hatje mitteilen, er habe über die Mittelstelle der Jüdischen Gemeinde von der Geheimen Staatspolizei erfahren, dass Lina Hatje am 21.3.1943 vormittags 12 Uhr im Konzentrationslager Auschwitz, Häftlingskrankenbau, an Sepsis bei Phlegmone gestorben sei. Die Beisetzung der Urne habe auf Staatskosten im Urnenhain des Lagers stattgefunden. Später erhielt die Familie noch eine Sterbeurkunde, penibel ausgefüllt vom “Standesamt II Auschwitz”.

Unvorstellbar ist immer wieder die versuchte Vertuschung des Verbrechens, die Darstellung des Tötens in Auschwitz als Sterben im Krankenbau an einer normalen, in Wirklichkeit aber  willkürlich benannten Krankheit; dazu die scheinbar ordnungsgemäße Urnenbeisetzung im Urnenhain auf Staatskosten, für die man dankbar sein muss. Erst nach 1945 erfuhren die Angehörigen, was Auschwitz bedeutete, und bekamen eine Ahnung vom Grauen des Lagers, sie müssen nun in Gedanken an die Mutter damit leben. 

Lina Hatje-Russ war eine tatkräftige, lebenstüchtige Frau. “Sie hatte schwarze Haare, dunkle Augen und einen brünetten Teint und war durch ihre aufrechte Haltung eine imponierende Erscheinung”, berichtet die Tochter. Eine besondere Freude war ihr die kleine Enkeltochter, die bei der Verhaftung der Großmutter drei Jahre alt war und die heute noch Erinnerungen hat an eine Frau, die sie ihre ganze Liebe hat spüren lassen.

Recherche und Text: Irma Glaub, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Süd, 2007

Der Stolperstein für Lina Hatje
Der Stolperstein für Lina Hatje
Jörg Kurz berichtet über das Leben von Lina Hatje
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Gunter Demnig beim Vergießen, umringt von vielen Beinen
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Alle Fotos: Jörg Munder