Moses Moritz Max Henle wurde am 13.3.1874 in Oberdorf bei Bopfingen geboren, seine Frau Mathilde Bickart am 21.9.1878 in Eichstetten am Kaiserstuhl. Max Henle wuchs in Oberdorf auf, seine Eltern Isak und Fanny Henle zogen 1894 nach Stuttgart, “bis ihre drei Töchter verheiratet und ihre drei Söhne erwachsen waren”, wie es in der Grabrede des Rabbiners und Kirchenrats Dr. Kroner für die Mutter Fanny Henle auf dem Stuttgarter Prag-friedhof 1901 heißt. 1902 starb auch Isaak, und Max Henle trat als Teilhaber der Lederhandlung “Isaak und Albert Henle” an die Stelle seines Vaters.
Am 26.3.1906 heiratete Max Henle in Nürnberg Mathilde Bickart. 1907 kam Sohn Hans zur Welt, 1918 Sohn Werner. Die Familie wohnte zunächst weiter in der Hospitalstraße 21 A, wie schon die Eltern Isaak und Fanny, das Geschäft wurde an wechselnden Standorten in der Innenstadt betrieben.
1911 nahm Max Henle seinen Schwager Hermann Bickart (1880-1924) mit ins Geschäft der nunmehrigen Ledergroßhandlung “Henle & Bickart”, ab 1913 mit festem Standort in der Alleenstraße 6 (diese Straße existiert heute nicht mehr, sie verlief vom Bahnhof zur Seestraße hin). Henles wohnten Alleenstraße 8, Hermann und Erna Bickart Koppentalstraße 3.
Die Firma prosperierte, man beschäftigte vier Angestellte und zwei Reisende, wie die Söhne nach dem Krieg im Entschädigungsverfahren angaben. 1924 starb Hermann Bickart, 1929 infolge der Weltwirtschaftskrise ging die Firma in Konkurs, 1932 war sie erloschen. Max Henle versuchte sich noch einmal im Textilhandel, mit dem Geld einer Lebensversicherung, die er sich am 1.4.1930 ausbezahlen ließ. 1932 scheiterte er auch damit.
Die Familie muss die große 7-Zimmer-Wohnung in der Alleenstraße aufgeben und zieht 1932 nach Heslach in die Hohentwielstraße 146 B, in eine 4-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss. Es ist nun ein Leben in zunehmender Armut. Nachbarn sagen nach 1945 aus, dass sie von einer Erwerbstätigkeit des Max Henle nichts gesehen haben: “Vielmehr hat er in dieser Zeit Hausarbeiten verrichtet … z.B. die Wäsche selbst gewaschen und im Hof aufgehängt, ferner eingekauft …”
Der Hausbesitzer berichtet: “Henles wohnten vom 1. April 1932 bis 30. März 1939 im Erdgeschoss meines elterlichen Hauses … Die Miete wurde pünktlich bezahlt … 1935 war Herr Henle genötigt, durch den Verkauf von Tisch- und Bettwäsche (wohl Überreste aus dem Textilhandel) seinen Lebensunterhalt zu bestreiten …”
Während die beiden Söhne emigrieren können (Hans rettet sich nach Montreal in Kanada, Werner geht 1935 zunächst nach Nürnberg, von dort wandert er 1937 in die USA aus), fehlen den Eltern die Mittel, um dem ihnen von ihrem deutschen Vaterland bestimmten grausamen Schicksal zu entgehen.
1939 ziehen Max und Mathilde Henle, jetzt 65 und 61 Jahre alt, in die Koppentalstraße 3 ins Haus der Witwe Erna Bickart, Mathildes Schwägerin. Diese wird gezwungen, andere Juden bei sich aufzunehmen, so sind es wenigstens die Verwandten, dazu kommen aber noch zwei weitere Frauen, sie alle wohnen dicht gedrängt auf einer Etage im “Judenhaus” der Erna Bickart.
1942 erfolgt die „Evakuierung“ nach Haigerloch, wo sie im Judenviertel Haag in der Haag-Straße 240 in ein jüdisches Haus zusammen mit anderen Juden hineingezwängt werden.
Der 22. August 1942 ist das Datum, an dem der Deportationszug mit etwa 1.100 vorwiegend alten Menschen (ab dem 60. Lebensjahr) vom Inneren Nordbahnhof nach Theresienstadt abfährt. Die in Dörfer und “Altersheime” in Württemberg „evakuierten“ Juden werden einige Tage vorher ins Sammellager auf dem Killesberg gebracht. Auch Henles aus Haigerloch sind dabei. In der Halle des Reichsnährstandes spielen sich schreckliche Szenen unter den alten, bis zu 90jährigen Menschen ab, die auf dem Fußboden campieren müssen, wie eine überlebende jüdische Krankenschwester später berichtet. Sechs Menschen sterben in diesen Tagen und Nächten. Unter ihnen ist der jetzt 68jährige Max Henle. Im amtlichen Sterbebuch, aufbewahrt im Stadtarchiv Stuttgart, ist festgehalten: “Der Kaufmann Moses Moritz Max Israel Henle, israelitisch, wohnhaft in Haigerloch Krs. Hechingen, ist am 19. August 1942 um 20 Uhr 30 Minuten in Stuttgart auf dem Killesberg in der Ausstellungshalle verstorben … eingetragen auf mündliche Anzeige des Bestattungsordners Josef Israel Wochenmark, Doktor der Philosophie, wohnhaft in Stuttgart, Eberhardstraße 1. Der Anzeigende ist persönlich bekannt. Er ist über den Sterbefall aus eigenem Wissen unterrichtet.”
Alle persönlichen Daten des Toten bis hin zu den Eltern sind penibel aufgeführt. Die bemühte Korrektheit und der untaugliche Versuch, den Schein der Rechtmäßigkeit zu wahren (sogar der Rabbiner der immer noch existierenden jüdischen Restgemeinde wird eingeschaltet), muten heute irrwitzig an.
Auch den von einem Arzt ausgefüllten Totenschein gibt es, Dr. Jakob schreibt als Todesursache: “Arterienverkalkung – Apoplexie (Hirnblutung) von Dr. Benno Israel Jakob festgestellt.”
Dr. Benno Jakob, Arzt in Stuttgart, war auch nach Haigerloch „evakuiert“ worden und wartet jetzt in der Halle auf dem Killes-berg auf die Deportation. Er und seine Frau Ida sterben später in Theresienstadt. In Stuttgart-Ost, Werfmershalde 12, wurden für sie bereits Stolpersteine gelegt, im Stuttgarter jüdischen Ärztebuch von Susanne Rueß wird ihr Leben geschildert.
Rabbiner Dr. Josef Wochenmark wohnte im “Judenhaus” Eberhardstraße 1. Sicher bestattete er auch Max Henle auf dem israelitischen Teil des Pragfriedhofs, wo bis heute sein Grab ist. Am 8. März 1943 schnitt er sich die Pulsadern auf, als er von seinem bevorstehenden Abtransport nach Theresienstadt erfuhr. Auch er liegt auf dem Pragfriedhof. Seiner Frau Bella misslang der Selbsttötungsversuch, ihr Leben endete 1944 in Auschwitz.
Auch für Erna Bickart und zwei weitere Jüdinnen – Gretchen Bohle und Marie Zinn – liegen in der Koppentalstraße 3 im Stuttgarter Norden Stolpersteine, Erna Bickart musste schon vor ihrer Schwägerin Mathilde Henle, am 1.12.1941 nach Riga, die Fahrt in den Tod antreten.
Mathilde Henle muss nun allein, ohne ihren Mann, am 22. August 1942 im Inneren Nordbahnhof in den Zug nach Theresienstadt einsteigen, wo am 24.12.1942 ihr Leiden ein Ende fand.
Bei der Verlegung der Stolpersteine vor dem Haus Hohentwielstr. 146 B waren Schüler der Schickhardt-Realschule beteiligt, die hier Zeitgeschichte praxisnah erlebten, denn erstmals bei einer Verlegung im Stuttgarter Süden gab es Probleme, wie ein Transparent zeigte, das am Terassengeländer über den Garagen befestigt war: “Wir sind gegen diese ‘Stolpersteine’!”
Pfarrer Siegfried Bassler, der zur Verlegung der Stolpersteine durch Gunter Demnig über das Schicksal von Max und Mathilde Henle berichtete, nahm dies zum Anlass, den Schülern die rechtlichen Grundlagen und den Standpunkt der Initiative zu erklären, die sich den Opfern verpflichtet fühlt und deshalb die Steine auch gegen den Einspruch des Hausbesitzers verlegt. Bei Widerständen müsse man eben auch einmal hinstehen!
2010 / Irma Glaub, Stuttgart-Süd (ergänzt: Wolfgang Kress und Werner Schmidt)