Hedwig Hirschfeld, geborene Kaufmann
Geboren: 25.07.1879 in Kleineicholzheim, Kreis Mosbach.
Eheschließung: 22.10.1900 in Kleineicholzheim mit
Artur Hirschfeld, *09.09.1867 in Deutsch Krone,
Westpreußen, verstorben am 15.11.1939 Stuttgart.
Kind: Ilse *25.02.1903 in Erfurt, verheiratet mit Erwin Drucker,
Deportation 01.12.1941 Riga, verschollen, für tot erklärt.
Enkelkinder: Heinz Stefan Drucker, *03.01.1927.
Deportation 01.12.1941 Riga, verschollen, für tot erklärt.
Brigitte Drucker, *17.04.1933.
Deportation 01.12.1941 Riga, verschollen, für tot erklärt.
Deportation: 1942 nach Dellmensingen, Jüdisches “Altersheim”,
22.08.1942 Theresienstadt.
Tod: 05.10.1942 Theresienstadt, ermordet.
Langjährige
Wohnung: Stuttgart-West, Reinsburgstraße 107.
Die Reinsburgstraße 107 war von 1939 bis 1942 ein sogenanntes „Judenhaus.“
Das schöne Jugendstilhaus, mit dessen Bau 1908 begonnen wurde, blieb im 2. Weltkrieg fast unbeschädigt. Es gehörte seit 1923 Artur Hirschfeld, dem Ehemann von Hedwig Hirschfeld. Die Familie wohnte auch seither im 2. Stock in einer großzügigen Wohnung. Das einzige Kind, die Tochter Ilse, heiratete 1924 und zog aus.
Artur Hirschfeld war ein tüchtiger Geschäftsmann, Teilhaber der Firma Richard Schaarschmidt, eines Kaufhauses in Stuttgart, Marktplatz 16. 1938 ging dieses Unternehmen an die Firma E. Breuninger über.
Am 15. November 1939 starb Artur Hirschfeld. Es ist anzunehmen, dass er noch miterlebte, wie die ersten jüdischen Menschen im Rahmen der Umsiedlung „Jüdische Menschen in Jüdische Häuser” in sein Haus einzogen. Auch die Tochter Ilse kam mit den beiden Enkelkindern zurück aus Mainz in das Haus der Eltern. Der Ehemann war in die USA emigriert. Sicher wollte er seine Familie nachholen.
In die Wohnung der Hirschfelds im 2. Stock musste 1939 der Hautarzt Dr. med. Martin Peiser mit einziehen. Er wurde am 01.12.1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Auch in die anderen Etagen wurden Menschen eingewiesen. Immer mehr Personen, auch Familien mit Kindern, hatten in der Reinsburgstraße 107 einen Unterschlupf, so dass z.B. 1941 über vierzig Personen im Haus einquartiert waren. Darunter befanden sich auch Walter und Hanna Levi mit ihren sechs Kindern. Die ganze Familie wurde in Riga ermordet. Die Familie Levi wohnte vorher langjährig in der Alexanderstraße 81 in Stuttgart-Mitte.
Hedwig Hirschfeld erlebte die Deportation ihrer Tochter und Ihrer Enkelkinder am 1. Dezember 1941 nach Riga mit. Sie kamen alle drei nicht zurück.
Seit dem 19. September 1941 musste sie wie alle anderen Menschen jüdischen Glaubens den Judenstern tragen.
Im Zuge der „Landumsiedlung” kam Hedwig Hirschfeld am 28. Februar 1942 in das Heim nach Dellmensingen.
Über diesen Ort bei Ulm lesen wir:
„1942 mietete die Jüdische Kultusvereinigung Württemberg das Schloßgebäude einschließlich der Benutzung von Garten und Insel zur Unterbringung von ca. 120 Juden auf die Dauer von vier Jahren an. Insgesamt waren von Februar 1942 bis August 1942 127 jüdische Mitbürger untergebracht, von denen der größte Teil am 19. August nach Theresienstadt deportiert wurde.” (Dellmensingen 1092 – 1992. Hrsg. Gemeinde Erbach, Ortsverwaltung Dellmensingen. Ulm 1992, S131ff.)
Etwa ein halbes Jahr lebte Hedwig Hirschfeld in Dellmensingen. Dann musste sie nach Stuttgart zurück zur Deportation, die am 22. August 1942 nach Theresienstadt ging. Ob sie eine Nachricht über den Verbleib der Tochter und der Enkelkinder hatte, ist nicht bekannt. Vor der Deportation mussten die entsprechenden Zahlungen für den „Heimeinkauf” nach Theresienstadt getätigt werden. Mitnehmen konnte sie dann auf diese „Reise” noch einen Koffer und 55 RM. Hedwig Hirschfeld wurde am 5. Oktober 1942 in Theresienstadt ermordet. Sie war 63 Jahre alt.
Ihr ganzes restliches Vermögen wurde am 21.08.1942 auf Grund des Gesetzes vom 14.07.1933 in Verbindung mit dem Führererlass vom 21.05.1942 zu Gunsten des Deutschen Reiches entschädigungslos eingezogen. Das Deutsche Reich wurde als Eigentümer der Grundstücke eingetragen.
Als Erbe seines in Riga ermordeten Sohnes Heinz Stefan Drucker erhielt nach dem Krieg Erwin Drucker, der in die USA emigrierte Schwiegersohn von Hedwig Hirschfeld, das Haus Reinsburgstraße 107 zurück. Erwin Drucker verkaufte das Haus, das seit 1954 im Besitz des Landes Baden-Württemberg ist.
Ein früher Nachbar, damals ein Kind, erinnert sich, wie er mit den Enkelkindern Brigitte und Heinz Stefan Drucker im Hof spielte. Dann waren die Kinder plötzlich weg. Nach dem Krieg war der Vater des Nachbarbuben dabei behilflich, dass das Haus wieder in den Familienbesitz kam. Der Sohn des Nachbarn, der damalige Spielkamerad, stellte freundlicher Weise Fotos der Häuser Reinsburgstraße 107 und 109, vor und nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg, zur Verfügung. Ein Foto zeigt das Haus Reinsburgstraße 107, aufgenommen 1942, als die jüdischen Menschen deportiert waren und jemand alle Rollläden heruntergelassen hatte, vielleicht in der Hoffnung, nach dieser “Reise” wieder zurück zu kommen, um im Haus noch einmal ein normales Leben zu beginnen.
Recherche und Text: 2010/Margot Weiß
Stolpersteininitiative Stuttgart-West
Stadtarchiv Stuttgart, Adressbücher.
Staatsarchiv Ludwigsburg.
Hauptstaatsarchiv Stuttgart.
Ortschronik: Dellmensingen 1092 – 1992
Standesamt Stuttgart-Degerloch.
Maria Zelzer: „Wege und Schicksal Stuttgarter Juden.“
Amtsblatt der Stadt Stuttgart vom 10. August 1939.
Erzählungen von G. Krippendorf (verstorben 04.01.2011).