“Stuttgart ist die schönste Stadt, die man sich vorstellen kann. Sie liegt in einem Tal, umgeben von Hügeln. Überall ist Grün, Weinberge, Gärten und Wald.” So beschreibt Hannelore Marx dem Sohn Larry in ihren Lebenserinnerungen ihre Heimatstadt. Der Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen hat sie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt .
Aus diesen Sätzen spricht sehr viel Liebe zu einer Stadt, die auch nach einem langen Lebensweg in den USA noch nicht erloschen ist. Die Erinnerung an “eine wunderbare Kindheit in Stuttgart” konnte auch nicht durch die Barbarei der Nazis zerstört werden, die ihren Eltern, sowie der ersten Frau und Tochter ihres Mannes den Tod gebracht hatte.
Die Eltern Hilda und Max Kahn waren liebevolle und warmherzige Menschen, die ihre beiden Kinder zu gläubigen Juden erzogen. Man ging immer in die Synagoge nach Cannstatt, weil Hilda von dort stammte und zusammen mit ihren Schwestern im Chor sang. Auch ihre Eltern Ernst Pick und Anna, geb. Ostertag lebten dort.
Hilda war eine musikalische Frau. Sie studierte sechs Jahre Klavier am Konservatorium und hatte außerdem Gesangsunterricht bei Frau Onegin, damals eine berühmte Opernsängerin. Nach der Geburt der Kinder sah Hilde ihre Aufgabe vor allem darin, den Haushalt in der Stitzenburgstraße 17 zu führen. Auf dem Markt kaufte sie einen Großteil der Lebensmittel. Sie kochte mit dem Hausmädchen Marmelade und Gelee und legte Früchte und Gemüse in Gläsern für den Winter ein. Äpfel und Birnen wurden auf dem Schlafzimmerschrank und im Kellerregal aufbewahrt.
Max Kahn war zusammen mit seinem Onkel Adolf Rosenfeld Besitzer eines Haushaltswarengeschäfts am Marktplatz neben dem Rathaus. Er stammte aus einer großen Familie in Gemmingen. Mit 14 Jahren, nach dem Besuch der Volksschule ging er von zu Hause weg und machte eine Lehre. Mit viel Fleiß arbeitete er sich zum Ladenbesitzer hoch. Als die Zeiten schlechter wurden und er sein Geschäft verloren hatte, musste er in einer Schuhfabrik arbeiten.
Trotz heftiger Bemühungen scheiterte eine Ausreise in die USA an der mangelnden Unterstützung durch die dortige Verwandtschaft. Im Frühjahr 1941 mussten die Kahns ihre Wohnung räumen und mit anderen Juden in eine Wohnung ziehen. Im November 1941 wurde die Deportation angeordnet. Am 27. November kamen die Nazis in die Wohnung und beschlagnahmten alles, was nicht mitgenommen werden konnte. Am 1. Dezember morgens um drei Uhr, als die meisten Einwohner Stuttgarts friedlich schliefen, wurden ungefähr 1350 Juden zum Nordbahnhof gebracht und in total überladenen Züge “verladen” und nach Riga deportiert. Am 26. März 1942 wurde von dort eine Gruppe von Frauen und Kindern nach Dünamünde verbracht. Unter ihnen war Hilde Kahn, und es war das letzte Mal, dass ihre Tochter sie sah.
Im August 1944 wurden Max Kahn und seine Tochter Hannelore, die einer Arbeitskolonne für die Firma Meteor zugeteilt waren, in das Konzentrationslager Kaiserwald verbracht. Männer mussten in einem nahe gelegenen Wald Massengräber ausheben. Die Nazis wollten möglichst keine Spuren hinterlassen. Als Männer einer Arbeitskolonne auf Lastwagen aus dem Lager gebracht wurden, und noch Plätze frei waren, ergriff die SS alle, derer sie habhaft werden konnte, darunter war auch Max Kahn. Nur Hannelore überlebte. Die Rote Armee kam schneller als erwartet, und die SS hatte nicht genug Zeit, alle Juden umzubringen, meint Hannelore.
Hilde und Max Kahn ruhen in Massengräbern um Riga, sie haben keine Grabsteine – nun erinnern Stolpersteine in der Stitzenburgstraße 17 an sie.
An Hilde und Max Kahn und ihre Tochter Hannelore Marx erinnert der “Familienabend” des Theaters LOKSTOFF!, der in der Wohnung der Familie ihre Geschicte lebendig werden läst. Auußerdem gibt es zu diesem Familienabend ein spezielles Format für Jugendliche, das von Schulklassen gebucht werden kann. Näheres hierzu finden Sie hier. Während der Pandemie konnten die Familienabende nicht stattfinden, deshalb hat LOKSTOFF! ein Hörstück produziert. Den Zugang zum Hörstück finden Sie hier.
Text und Recherche: Franz Hergenröder, Karin Andre
Quellen:
Stadtarchiv Stuttgart
Hauptstaatsarchiv Stuttgart
Staatsarchiv Ludwigsburg, Entschädigungsakten
Fotos: Hannelore Marx
Buch: H. Marx (2005): Stuttgart Riga New York – Mein jüdischer Lebensweg. 152 S., Barbara Staudacher Verlag.
Pate für Hilde Kahn: Gebhard Klehr, Stuttgart
Pate für Max Kahn: Michael Bräunicke, Stuttgart
Im Rahmen des Projektes „Frage-Zeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeuginnen des Nationalsozialismus“ wurde 2016 in den USA ein Film mit Hannelore Marx, Tochter von Hilde und Max Kahn produziert. Den Film finden Sie hier.