Nesenbachstr. 29 (heute Unterführung Schwabenzentrum, Stein: Eberhardstr. 35)
Die Familie Levi stammt aus Nordstetten bei Horb. Sie ist dort über fünf Generationen hinweg belegt. Die väterliche Linie beginnt Anfang des 18. Jahrhunderts mit Jonas Levi. Dessen Frau Simche lebte von 1716-1816 und ist auf dem Nordstetter jüdischen Friedhof bestattet. Dort befinden sich auch die Gräber der folgenden Generationen der Levis.
Nordstetten ist der Geburtsort von Ernst (*24.9. 1892) und seinem Bruder Ludwig (*1896, für ihn liegt bereits ein Stolperstein in der Leuschnerstr. 47). Die Familie Levi besaß Häuser in Nordstetten, darunter eines in der Hauptstr. 52, das der Großvater 1872 kaufte.
Der Vater von Ernst und Ludwig Levi hatte dieses Haus 1899 von seinem Vater übernommen. Dort wuchsen die Brüder auf.
1926 wurde das Haus verkauft, der Grund dafür ist nicht bekannt. Ein Jahr zuvor war die jüdische Gemeinde Nordstetten aufgelöst worden; seit Mitte des 19. Jahrhundert waren immer mehr Juden aus Nordstetten in größere Städte abgewandert, weil die wirtschaftlichen Bedingungen auf dem Land zunehmend schwieriger wurden. Ernst und Ludwig Levi waren Kaufleute, sie haben in dem Umzug nach Stuttgart wahrscheinlich gute Chancen gesehen.
Ernst Levi heiratete 1924 die gebürtige Stuttgarterin Berta Baumann (*31.1.1894), 1928 kam ihre Tochter Hannelore Fernanda zur Welt.
Der letzte freiwillige Wohnort der Familie war die Obere Bachstr. 29 (heute Nesenbachstr.) im 2. Stock, über einem Lebensmittelgeschäft (siehe Foto). Dort wohnten sie seit 1935.
Als die Verfolgung der Juden brutaler wurde und u.a. ihre Versorgungsmöglichkeiten
drastisch eingeschränkt wurden, haben die Inhaber des Geschäftes im Erdgeschoss der Familie Levi immer wieder heimlich Lebensmittel zukommen lassen.
Von 1936 an hatte Ernst Levi bei der Firma Landauer als Kaufmann gearbeitet. Mit der Verschärfung der antisemitischen Verfolgung fand er von 1938-41 nur noch Arbeit als Gehilfe in der Gaststätte Bloch, wo auch seine Frau Berta arbeitete. Von Oktober 1941 bis November 1941 war er Aushilfsarbeiter.
Im letzten Jahr vor ihrer Deportation wurde die Familie unter den üblichen schlechten Bedingungen zwangseinquartiert, die Adresse war in der Weinsteinstraße 33, heute Sophienstraße. Ernst Levi war zu dieser Zeit Hilfsarbeiter.
Seit dem 19. September 1941 mussten Ernst und Berta den Judenstern tragen.
Am 1. Dezember 1941 wurden sie nach Riga deportiert, ebenso Ernsts Bruder Ludwig. Alle drei sind verschollen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden sie bei der so genannten „Großaktion Dunamünder Konservenfabrik“ am 31.3.42 in einem Wald bei Riga erschossen. Dort töteten Nazis zwischen 1.500 und 2.000 Häftlinge des KZ Jungfernhof. Ob Ernst und Berta dabei waren, ist zwar wahrscheinlich, aber nicht eindeutig zu klären. Auf der Basis dieser unklaren Fakten legte die Bundesrepublik im Wiedergutmachungsverfahren fest, dass nur wenige junge und kräftige Männer dem Massaker entkommen seien, ergo Ernst und Berta nicht. So ersparte sich die BRD potentielle Haftentschädigungen, die für den Zeitraum zwischen dem Rigaer Massaker Ende März 1942 und Kriegsende am 8. Mai 1945 an ihre Tochter geflossen wären.
Hannelore bekam Entschädigung wegen „Schaden im beruflichen Fortkommen ihres Vaters“ vom 23.10.36 – 31.3. 42, dem amtlich festgesetzten Todestag.
Da der Todeszeitpunkt in dem Beschluß des Amtsgerichts Stuttgart vom 20.August1952 nicht auf Grund tatsächlicher Ermittlungen festgesetzt wurde, war die Feststellung eines anderen Todeszeitpunktes gemäß § 180 Abs. 2 BEG zulässig und geboten. Die Entschädigung beträgt DM 150 je vollem Monat Freiheitsentziehung oder Beschränkung.19.September 1941 bis 31.März 1942 – sechs volle Monate, entspricht 900 DM. Freiheitsbeschränkung ist der Zeitpunkt ab dem der Judenstern getragen werden musste, Freiheitsentzug meint den Zeitpunkt ab der Deportation.
Hannelore war 1939, im Alter von 11 Jahren, mit einem Kindertransport nach England gekommen. Ihre Eltern versuchten, sie mit dem Schwindel zu trösten, dass es nur eine Urlaubsreise sein würde, und man sich nach dem Krieg wiedertreffen würde.
Als Deutsche wurde Hannelore in Großbritannien nicht gerade herzlich aufgenommen; sie lebte in verschiedenen Pflegefamilien, bevor sie bei Sheila und Keith Johnson in Leeds so etwas wie ein neues Zuhause fand. 1945 erhielt sie die Nachricht vom Tod ihrer Eltern. Hannelore wurde Krankenschwester und wanderte 1962 nach Neuseeland aus. Dort heiratete David George Greville, das Paar bekam zwei Kinder: 1964 Philippa, genannt Pip. Deren jüngerer Bruder Richard starb 1991 im Alter von 23 Jahren.
Hannelore hatte ihr Leben lang Angst vor Verfolgung. Ihren Kindern riet sie, nichts von ihrer Abstammung zu verraten, sondern sich immer als halb Neuseeländer und halb Engländer auszugeben.
Nur ein einziges Mal kam Hannelore nach dem Krieg nach Stuttgart zurück. Aus Angst verheimlichte sie ihre Identität und sprach nur englisch.
Erst die Söhne ihrer Tochter Pip (geb. 1995 und 1997) sind nun stolz auf ihre jüdischen Wurzeln. Sie finden es cool, eine deutsch-jüdische Oma zu haben.
Fotos aus dem Nachlass von Hannelore Levi.
Es sind die einzigen erhaltenen Bilder der Familie, sie stammen wahrscheinlich aus der Zeit bis 1939, als Hannelore dank einem Kindertransport nach England gerettet werden konnte.
Das einzige Familienbild von Bertha, Ernst und Tochter Hannelore Levi. Nachdem Hannelore mit einem Kindertransport nach England gerettet werden konnte, kolorierte sie dieses Bild, ursprünglich ein Schwarz-Weiß-Abzug, in kräftigen Farben. Später erzählte sie ihrer Tochter, darin habe sich ihr Wunsch ausgedrückt, die unerreichbar fernen Eltern auf eine kindliche, fröhliche Weise in Erinnerung zu behalten.
Wohnhaus der Familie Levi, Obere Bachstr. 29
Belegschaft der Gaststätte Bloch, hinten rechts Berta Levi. Vermutlich handelt es sich um die Gaststätte Bloch, deren Inhaberin Friedrike „Rickchen“ Bloch einen Stolperstein in der Rotebühlstr. 1c hat.
Hannelore Levi (mit Badekappe, vorne); im Hintergrund evtl. Walther Levi. Das Bild enstand vermutlich im Feuerbacher Tal, wo Julius Baumann, der Onkel von Hannelore, im Sommer 1939 einen Pool für jüdische Kinder ausgehoben hat, die sonst nirgends mehr baden durften.
Für Julius Baumann liegt ein Stolperstein in der Eberhardstr. 35.
An Berta, Ernst und Hsannelore Levi erinnert ein StolperKunst-Video von Dora Varkony und Nina Blazon. Den Videoclip finden Sie hier.