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Marie Reif, Eduard-Pfeiffer-Str. 107

Josef Reif wurde am 4. November 1864 in Stuttgart geboren, seine spätere Ehefrau Marie Hausmeister am 2. Oktober 1873 ebenfalls in Stuttgart. Josef stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Marie war die Tochter des Bankiers Max Hausmeister und dessen Ehefrau Sofia geb. Arnstein. Während die Hausmeisters eine alteingesessene Stuttgarter Familie waren, kamen die Arnsteins aus Sulzbach.
Obwohl die 1873 geborene Marie das dritte Kind der Familie war, wuchs sie im Grunde allein auf, denn ihre beiden älteren Geschwister starben bereits im Kindesalter.
Über Kindheit und Jugend der Beiden ist nahezu nichts bekannt. Josef Reif studierte Jura und wohnte 1890 mit seiner – zwischenzeitlich verwitweten – Mutter in der Olgastraße. Im Stuttgarter Adressbuch von 1890 wird er als „Justizreferendär“ geführt.
Am 26. Juni 1897 heirateten Josef Reif und Marie Hausmeister hier in Stuttgart. Um diese Zeit herum wurde Josef Reif Amtsrichter und einige Jahre später Landrichter, also Richter am Landgericht.
1909 zog das kinderlos gebliebene Paar in die Johannesstraße 57. Bereits zu diesem Zeitpunkt war Herr Reif aus dem Justizdienst ausgeschieden und führte den Titel Landrichter a.D. Ob seine gesundheitliche Situation hierfür ursächlich war (er litt offenbar unter ständigen starken Kopfschmerzen und wurde deshalb im Familienkreis nur „’s Kopfele“ genannt), kann nur vermutet werden. In den folgenden Jahren widmete er sich angeblich vorrangig der Verwaltung des beträchtlichen Vermögens, das vermutlich Frau Marie mit in die Ehe gebracht hatte.
Bis ins Jahr 1935 wohnten die Reifs in der Johannesstraße 57, bis sie im Mai 1935 für 90.000 RM das stattliche Haus in der Eduard-Pfeiffer-Str. 107 erwarben. Dieser Hauskauf – wenige Monate vor dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze – ist ein weiterer Beleg dafür, dass ein Großteil der deutschen Juden die drohende Gefahr nicht erkannte oder schlicht für nicht vorstellbar hielt.
Bereits ab Januar 1935 musste Marie Reif – wie alle jüdischen Frauen – ihrem Namen den Vornamen Sara, Josef Reif – wie alle jüdischen Männer – den Vornamen Israel hinzufügen. Mit dieser Kennzeichnung gingen sie in ihre schwerste Zeit.
Mit den Rassegesetzen vom September 1935 verschärfte sich die Lage der Juden zunehmend. Für das Ehepaar Reif wirkte sich dies zunächst vorrangig auf ihre Vermögenssituation aus. Denn 1938 begann der NS-Staat systematisch, Teile des Barvermögens der jüdischen Bürger „abzuschöpfen“:

Judenvermögensabgabe
Nach dem Attentat auf den deutschen Legationssekretär vom Rath (7.11.1938 in Paris) und dem anschließenden Novemberpogrom („Reichskristallnacht“) wurde den deutschen Juden eine Judenvermögensabgabe auferlegt. Als „Sühneleistung“ für die „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ mussten alle Juden mit einem Vermögen von über 5.000 RM zwanzig Prozent (1939 auf 25 Prozent erhöht) ihres Vermögens abführen. Bis Ende November 1939 wurden auf diese Weise knapp 1,2 Milliarden RM „abgeschöpft“.
Aufgrund dieser Maßnahme musste das Ehepaar Reif eine „Judenvermögensabgabe“ von über 143.000 RM entrichten. Hinzu kamen in der Folgezeit beträchtliche Sonderzahlungen an die Reichsvereinigung der Juden.
Mit Anordnung vom 21. Februar 1939 mussten die Stuttgarter Juden alle Wertsachen aus Gold, Platin, Silber sowie Edelsteine und Perlen an die Städtische Pfandleihanstalt abliefern. Reifs haben dies an mehreren Terminen getan. Beispielhaft seien nur die folgenden zwei Abgaben genannt:

Ablieferung 3. März 1939:
11 (jeweils silberne) Löffel, 30 Gabeln, 18 kleine Löffel, 16 Vorlegteile, 18 Eislöffel, 5 Moccalöffel, 18 Fischmesser, 17 Kuchengabeln, 2 Platten, 1 Teekanne, 2 Zuckerdosen, 2 Rahmkännchen, 1 Teesieb. zusammen: 6.300 g RM 252,–
Ablieferung 27. März 1939:
1 große Herrenuhr 18 kt
1 große Herrenuhr 14 kt
1 Damenuhr 18 kt
1 Damenuhr 14 kt
zusammen RM 130,–
Natürlich betrug der tatsächliche Wert der Gegenstände ein Mehrfaches. Zudem ging der geringe Erlös auf ein Sperrkonto und war praktisch nicht verfügbar.
Im Zuge der „Arisierung“ jüdischen Besitzes mussten die Reifs 1941 ihr Haus hier in der Eduard-Pfeiffer-Straße (die zwischenzeitlich in Adalbert-Stifter-Straße umbenannt war) verkaufen. Am 26. Juni 1941 wurde es an einen Stuttgarter Bürger verkauft, der sein Haus wegen des Baus des Wagenburgtunnels (zum „Großluftschutzraum“) aufgeben musste. Der Verkaufspreis von 93.000 RM wurde, weil die Besitzer Juden waren, vom Stuttgarter Oberbürgermeister auf 80.000 RM abgesenkt.

Ab dem 19. September 1941 mussten Marie und Josef Reif – wie alle Stuttgarter Juden – den sog. Judenstern tragen. Längst vorher war es ihnen verboten worden, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Theater, Konzerte oder Kinos zu besuchen, Reisepässe waren ebenso eingezogen worden wie Führerscheine, Kraftfahrzeuge ebenso wie Radios. Lebensmittel und Waren aller Art konnten nur noch im einzigen Stuttgarter „Judenladen“ in der Seestraße erworben werden.
Ab Spätjahr 1941 wurde für alle offensichtlich: Evakuierung und Deportation standen bevor…
In dieser immer schwieriger werdenden Lage starb Josef REif am 18. Januar 1942 in Stuttgart.
Wenig später, Ende Februar 1942, wurde Marie Reif in das „Jüdische Altenheim“ in Dellmensingen bei Ulm evakuiert. Dort verbrachte sie die nächsten Monate bis August 1942.
Kurz vor ihrer Deportation musste sie Anfang August noch einen sog. Heim-einkaufsvertrag über 117 517,40 RM abschließen, mit dem ihr lebenslange kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversicherung zugesagt wurde. Zugleich musste sie alle noch in ihrem Besitz befindlichen Wertpapiere in Reichsschatzanweisungen umtauschen, was faktisch einer Enteignung gleichkam.
Am 22. August 1942 musste sich Marie REIF mit 939 anderen älteren Menschen im Sammellager auf dem Killesberg einfinden, wo ein neuer Transport „in den Osten“ zusammengestellt wurde. Am Tag darauf verließ der Güterzug Stuttgart mit Ziel Theresienstadt. Den Transport und den „Wartesaal für Auschwitz“, wie Theresienstadt auch genannt wurde, überlebten viele der alten Menschen nicht. Auch Marie Reif starb wenige Tage nach ihrer Ankunft am 1. September 1942.
Das noch immer ziemlich ansehnliche Restvermögen „verfiel an das Deutsche Reich“. Das Haus in der Eduard-Pfeiffer-Straße 107 wurde am 13. September 1944 Opfer eines alliierten Bombenangriffs; übrig blieben nur noch ausgebrannte Mauern…

Recherche und Text: Josef Klegraf, Initiativkreis Stolpersteine Stuttgart-Nord in der Geschichtswerkstatt S-Nord.
Quellen: