Verlegt am 8. Oktober 2010
Paul Reis war Jude. Er wurde am 1. Dezember 1904 in Paris geboren. Sein Vater Sigmund (1863-1937), in Niederstetten geboren, war Kaufmann und arbeitete für die Stuttgarter Firma Max Kahn, Fabrik und Exportgeschäft für optische Waren, ab 1890 als Prokurist und ab 1903 als Teilhaber. Seit den 1890er Jahren leitete er die Pariser Filiale der Firma. Zusammen mit seiner aus Stuttgart stammenden Frau Fanny (1879-1929) lebte er in Paris, wo auch der erste Sohn Leon 1899 geboren wurde.
Einen glücklichen Start ins Leben hatte Paul Reis nicht, denn kurz nach der Geburt zeigte sich, dass er linksseitig gelähmt war. Als Kind wurde er deshalb mehrmals in Stuttgart operiert, konnte dann aber, ebenso wie sein Bruder Leon, in Paris zur Schule gehen.
Von Leon Reis wissen wir, dass er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Deutscher -und damit als feindlicher Ausländer- interniert wurde, was vermutlich für die ganze Familie galt, die dann nach Kriegsende, ab 1920, im Stuttgarter Adressbuch nachzuweisen ist. Sie wohnte kurzzeitig in der Hegel- bzw. in der Landhausstraße und fand schließlich in der Augustenstr. 61 A eine Heimat. Während Leon eine Lehre in der Firma Max Kahn machte, besuchte sein Bruder Paul ein Realgymnasium, das Dillmann-Gymnasium. Es wird berichtet, dass er dort einigermaßen mitkam. Doch dann gab es Schwierigkeiten: Paul Reis klagte über Belästigungen durch seine Schulkameraden. Schließlich nahmen ihn die Eltern 1922 von der Schule. Hatte er sich vorher viel Mühe beim Lernen gegeben, wurde er nun immer gleichgültiger und antriebsloser. Immer deutlicher trat eine psychische Störung in Erscheinung.
Als Paul Reis dann im Herbst 1924 auch noch von daheim weglief –er wurde schließlich nahe der Solitude gefunden– kam er vorübergehend in die Tübinger Universitätsnervenklinik und schließlich in das Stuttgarter Bürgerhospital, wo sich sein Zustand allerdings so weit besserte, dass seine Familie ihn im Januar 1929 wieder nach Hause nehmen konnte.
Doch dann starb im Mai 1929 die Mutter von Paul Reis. Vater Sigmund beendete wenige Monate später seine Teilhaberschaft bei der Firma Kahn, vielleicht aus Altersgründen –er war immerhin 67 Jahre-, vielleicht aber auch um sich besser um seinen Sohn kümmern zu können, mit dem er 1932 in die Bismarckstr. 85 zog, direkt an den Leipziger Platz mit seiner Grünanlage.
Die Schikanen der Nationalsozialisten trafen auch die jüdische Familie Reis. Bruder Leon, der für die Firma Marwitz + Hausser mehrere Monate in Südamerika Kunden geworben hatte, war bei seiner Rückkehr so sehr entsetzt über die Veränderungen im Hitler-Deutschland, dass er im Frühjahr 1934 mit seiner Frau Elisabeth nach Rio de Janeiro auswanderte. Weil nun auch die psychische Störung von Paul Reis wieder deutlicher wurde, musste dieser 1935 in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal. Als im November 1937 der Vater starb, wurde der nichtjüdische Schwager des Bruders Vormund.
Am 5. November 1940 fuhren die grauen Busse in Stetten vor. Paul Reis wurde im Rahmen der Maßnahmen des Reichsverteidigungskommissars in die Landespflege-Anstalt Grafeneck verlegt, wie heuchlerisch dem Vormund mitgeteilt wurde. Heute wissen wir, dass Grafeneck damals keine Pflegeanstalt war, sondern der Ort, an dem die Nationalsozialisten behinderte Menschen gleich nach ihrer Ankunft mit Kohlenmonoxid ermordeten. Die Sterbeurkunde versuchte dies zu vertuschen. Ausgestellt am 29. November 1940 heißt es dort: Paul Israel Reis, ohne Beruf, mosaisch, wohnhaft Grafeneck, ist am 17. November 1940 um 1 Uhr… in der Wohnung gestorben. Eingetragen auf schriftliche Anzeige des Leiters der Landes-Pflegeanstalt in Grafeneck. Todesursache: Ruhr, Kreislaufschwäche. Seine Urne, die wohl kaum seine Asche enthielt, wurde beim Grab des Vaters auf dem Pragfriedhof beerdigt.
Weil der NS-Staat auch von Paul Reis Judenvermögenssteuer aus dem Erbe des Vaters eingefordert hatte, wurde nach dem Krieg auf Antrag von Leon Reis ein Entschädigungsantrag eingereicht. In den zugehörigen Akten findet sich kein Wort darüber, dass Paul Reis ein Opfer der „Euthanasie“ des NS-Staates wurde.
Recherche: Elke Martin
Ergänzung und Text: Wolfgang Kress
Unter Verwendung von Akten und Unterlagen aus:
Bundesarchiv Berlin, Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.
Bild: Staatsarchiv Ludwigsburg