Keiner der heute noch Lebenden hat Anna Rieg so gekannt, dass er oder sie über Anna berichten könnte. Die, die Auskunft geben könnten, sind schon lange tot. Ob sie über Anna gesprochen haben, über ihr Leben, Ihre Krankheit oder gar ihren Tod – wir wissen es nicht. So sind wir auf späte Aktenfunde und ein Foto angewiesen, um uns ein Bild zu machen.
Anna Maria Rieg wurde als Anna Maria Allmendinger am 6. November 1877 in Scharnhausen bei Stuttgart geboren und evangelisch getauft. Sieben Brüder und zwei Schwestern hatte sie, einige davon starben schon als Kleinkinder, drei Brüder und eine Schwester haben das Erwachsenenalter erreicht und eigene Familien gegründet.
Anna besuchte die Volksschule in Scharnhausen und arbeitete bis zum 17. Lebensjahr im elterlichen Haus. Berichtet wird von einem Kochkurs in Hohenheim, davon dass sie Dienstmädchen war und in den Sommermonaten immer wieder den Eltern in Scharnhausen zur Hand ging.
Bereits im siebten Monat schwanger heiratete Anna am 30. Januar 1902 den nur wenige Tage jüngeren und in Stuttgart berufstätigen Postillon (später Postbetriebsassistent / Oberpostschaffner) Karl Rieg aus Bühlerzell / Crailsheim. Das Paar wohnte an verschiedenen Adressen in Stuttgart. 1927 zog die Familie dann in den Nelkenweg 8, eine Wohnung in der neu gebauten Abelsbergsiedlung in Stuttgart-Ostheim.
Zehn Kindern schenkte Anna das Leben, sechs von ihnen sind bei der Geburt oder schon sehr früh gestorben.
Anna muss bis zum Beginn ihrer Krankheit ein unauffälliger Mensch gewesen sein. Ihre Tochter gab bei einer Befragung im Bürgerhospital Stuttgart an, dass ihre Mutter den Haushalt gut versah, still für sich, sparsam und zurückgezogen lebte. Sie sei zwar religiös gewesen, dies jedoch nicht übermäßig. Die Ehe wurde von der Tochter als gut geschildert.
1934 wurde Anna in das Bürgerspital Stuttgart eingeliefert. Erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung hatten sich bereits ein Jahr vorher abgezeichnet. Ein Arzt empfahl aufgrund der „geistigen Erkrankung und Gefahr für sich und andere dringend“ die Aufnahme in die psychiatrische Abteilung. So erfolgte die Aufnahme in die private Heilanstalt Christophsbad in Göppingen (ab 1936 als Staatspflegling). In Göppingen blieb Anna mit Unterbrechungen bis zum Jahr 1940. Aus der Krankenakte geht hervor, dass sie unter einer Schizophrenie mit Wahnvorstellungen litt. Wir wissen, dass sie mehrmals von den Angehörigen nach Hause geholt wurde. Dort blieb sie dann einige Monate, in denen sich ihr Gesundheitszustand nach wenigen Wochen der Ruhe immer wieder stark verschlechterte. Den Akten ist zu entnehmen, dass die Angehörigen sich zwar sehr bemühten, den Herausforderungen, eine psychisch Schwerkranke zu pflegen, jedoch nicht gewachsen waren. Ihr Ehemann hat sie im April 1939 ein letztes Mal für mehrere Wochen „versuchsweise“ und gegen den Rat der Ärzte in den Nelkenweg 8 nach Stuttgart mitgenommen. Im August 1939 kam Anna wieder zurück nach Göppingen.
In Göppingen hatte ein Fotograf den Auftrag, die Kranken für die Unterlagen abzulichten. Schaut man sich heute diese Fotos an, erkennt man, dass dieser Fotograf keine typischen Krankenbilder erstellt hat. Er hat vielmehr versucht, in den Patienten der Heilanstalt Menschen mit Würde zu sehen und diesen Eindruck auch festzuhalten. So entstand das Foto der Patientin Anna Maria Rieg im Mai 1934.
Im Oktober 1939 wurde auch die private Heilanstalt Christophsbad Göppingen vom Reichsministerium des Inneren aufgefordert, Meldebögen über die kranken Insassen zu erstellen. Nach diesen Meldebögen wurde von einer Sonderbehörde des Dritten Reiches in der Tiergartenstraße 4 („Aktion T4“) in Berlin die Auswahl der zu vernichtenden Patienten getroffen. In den Worten von Viktor Brack, einem der maßgeblichen Organisatoren der NS-Euthanasie, der sogenannten „Aktion T4“ und von medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern: „In vielen Pflegeanstalten des Reichs sind viele unheilbar Kranke jeder Art untergebracht, die der Menschheit überhaupt nichts nützen. Sie nehmen nur anderen gesunden Menschen die Nahrung weg und bedürfen oft der zwei- und dreifachen Pflege. Vor diesen Menschen müssen die übrigen Menschen geschützt werden …“
Da die private Heilanstalt Christophsbad Göppingen keine Meldebögen ablieferte, stattete der Obermedizinalrat Dr. Otto Mauthe, Sachbearbeiter und Berichterstatter für das Irrenwesen im Württembergischen Innenministerium, der Anstalt einen Besuch ab und selektierte die ersten aus der Göppinger Anstalt zu verlegenden Patienten. In einem Schreiben von 1940 berichtet er: „… In der Liste der Staatspfleglinge habe ich alle diejenigen mit blauem Winkel bezeichnet, die nicht, oder ganz wenig arbeiten, meist schon länger in der Anstalt sind und nicht aus der Umgebung von Göppingen stammen. Diese Staatspfleglinge … eignen sich zur Verlegung in eine Staatskrankenanstalt, und es können zunächst einmal 40 Frauen zur Verlegung nach Weinsberg bestimmt werden.“ Am 17. April 1940 wurden 40 weibliche Patienten aus Göppingen nach Weinsberg verlegt.
In der Krankenakte von Anna Maria Rieg findet sich am 17. April 1940 der Eintrag: „… Heute nach Weinsberg verlegt, körperlicher Zustand gut.“
Die Ermordung von psychisch kranken Menschen in Grafeneck erfolgte im Januar 1940. Schon am 25. Januar 1940 wurden Insassen der staatlichen Heilanstalt Weinsberg nach Grafeneck gebracht und dort meist am selben Tag vergast. Knapp acht Monate verbrachte Anna in Weinsberg bevor sie nach Grafeneck abtransportiert wurde. Warum? Vielleicht fehlte der Anstalt Weinsberg im April 1940 noch der offizielle Meldebogen aus Berlin, der auch formal über ihren Tod entschied. Es sind dazu bisher keine Unterlagen bekannt.
Bekannt ist jedoch das „Effekten-Verzeichnis“ der Anna Maria Rieg mit der Nummer 116. Es Listet die persönlichen Habseligkeiten auf, die Anna im April 1940 aus Göppingen nach Weinsberg mitbringen durfte. Darunter finden sich einige Taghemden, Kleider, Beinkleider, Unterröcke und 15 Taschentücher, aber auch eine kleine Handtasche und ein Geldbeutel.
Der Geldbeutel wird schon eine Woche nach Einweisung wieder aus dem „Effekten-Verzeichnis“ ausgetragen. Was er enthielt wissen wir nicht. Der letzte Eintrag stammt vom Mittwoch, den 11. Dezember 1940. Er listet fast alle diese Sachen in der Spalte „mitgenommen“ auf. Dazu findet sich der Vermerk: „11. 12. 40. In eine andere Anstalt verlegt“.
Es wird dieser Mittwoch, der 11. Dezember 1940 gewesen sein, der – glaubt man den historischen Wetteraufzeichnungen – im Schnitt 30C kalt und ohne Sonnenschein war, an dem Anna Maria Rieg zusammen mit anderen Insassen der staatlichen Heilanstalt Weinsberg in einem der grauen Busse nach Grafeneck transportiert wurde.
Ob sie wusste, wo es hinging? Ob sie fror, Angst hatte, zumindest beunruhigt war? Wir wissen es nicht.
In Grafeneck wurde sie wahrscheinlich noch am selben Tag, vielleicht auch erst ein Tag später, vergast.
Im Gedenkbuch von Grafeneck finden wir ihren Namen.
Recherche und Text: Martina Rieg, Dr. Martin Hartmann
Quellen:
• Stadtarchiv Stuttgart
• Staatsarchiv Ludwigsburg
• Klinikum Christophsbad Göppingen
• Thomas Stöckle: „Grafeneck 1940“, Tübingen 2005
Für Anna Maria Rieg hat Lujiza Raiser ein Bild entwickelt und gedruckt. Das Bild ist entstanden im Rahmen des StolperKunst-Druckprojekts in der Druckwerkstatt Stuttgart-Ost. Mehr zu diesem Jugendkunst-Projekt sowie das Bild finden Sie hier.