Emil Rohrer wurde am 30. Dezember 1913 in Stuttgart als Sohn des gleichnamigen Schneidermeisters und seiner Frau Theresia geboren. Emil kam in der Breitscheidstr. 33/1 zur Welt; er ist das zweitjüngste von sechs Geschwistern. Zwei Jahre später zog die Familie in die nahegelegene Weimarstr. 17, 2. Stock. Sein Vater führt dort einen Schneiderbetrieb und seine Eltern hatten eine achtköpfige Familie zu versorgen. Dazu kam ein Bruder von Vater Emil, Onkel Hermann, für die Zeit seiner zweijährigen Ausbildung zum Postanwärter.
Emil und seine Geschwister erlebten ihre Kindheit und Jugendzeit im Stuttgarter Westen, zwischen Schloss- und Rotebühlstrasse, zwischen Infanteriekaserne und Feuersee. In den revolutionären Zeiten um 1918/1919, wurde die Kaserne entmilitarisiert – sie bietet Platz für die Oberfinanzdirektion und zwei Finanzämter. Der Exerzierhof wurde zum Versammlungs- und Demonstrations-Gelände (u. a. 8/1925: 64. Deutscher Katholikentag) und in den 1930er Jahren zum Aufmarschplatz für NS-Kundgebungen – heute Parkplatz. Für den sensiblen Jungen waren die NS-Auftritte wohl abschreckende Erlebnisse. Emil ist naturorientiert, wird Mitglied der katholischen Jugendbewegung „Bund Neudeutschland“, ein aus der Wandervogelbewegung entstandener Bund studierender Jungen und genießt die „Touren und Ausflüge“. Das Zentrum der sich stark vergrößernden Schüler-Bewegung war in Stuttgart die Villa Andresen, Hohenzollernstr. 11, besser als „Stella Maris“ bekannt; heute Haus der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Emil geht auf die Friedrich-Eugen-Oberrealschule, das spätere Friedrich-Eugen-Gymnasium.
Nach seinem Abitur 1931/32 steht er in schwierigen Zeiten vor einer schwierigen Berufswahl. Zum Wunschberuf „Geometer“, reicht die Abitursnote nicht. Den elterlichen Wunsch, er solle Kaufmann werden, lehnt Emil ab. Die Idee, in den Postdienst einzutreten, scheitert daran, dass er nicht der Partei angehörte und diese auch ablehnte. Schließlich erlernt er auf eigenen Wunsch beim Vater das Schneiderhandwerk. Obwohl für praktische Tätigkeiten eher unbegabt, legt er im Frühjahr 1934 die Lehrlings- und Gesellenprüfung ab. Ähnlich wie der ältere Bruder Eugen, der bereits Geistlicher ist, will er sich in ein religiöses Leben zurückziehen. Er tritt in Kontakt mit einem Karthäuserkloster und beginnt Latein zu lernen.
Besorgt über Emils Verhalten, der sich immer mehr von allem absondert, wendet sich die Mutter Theresia an einen Facharzt. An Heiligabend 1935 eskaliert die Situation: Berufungserlebnis, Familienstreit oder „schizophrener Erregungszustand“? Emil verhält sich zuhause, während des Gottesdienstes und in Pfarrhäusern derart auffällig, dass er dort festgehalten und ins Bürgerhospital eingeliefert wird.
Das Foto zeigt den gerade 22 Jahre alten, sichtlich mitgenommenen Emil nach seiner Einlieferung. Unter dem rechten Auge ist eine Verletzung sichtbar, die er sich vermutlich erst im Bürgerhospital zugezogen hat. Die Krankenakte beschreibt den schmächtigen jungen Mann als „äußerst gefährlich“ und wertet einen Fluchtversuch aus dem Bürgerhospital – bei dem er sich schwer verletzt – als Selbstmordversuch. Damit ist über die Anstaltsunterbringung entschieden.
Bereits im Januar wird Emil in die Heilanstalt Rottenmünster überstellt, wo er Besuche von Mutter und Bruder Eugen erhält. Im September 1939 für ein Jahr in die Weissenau verlegt, wird er am 5. Dez. 1940 nach Grafeneck bei Münsingen auf dem Gelände des Schlosses mit Kohlenmonoxid getötet. Mit einer Falschbeurkundung, die als Sterbeort Bernburg / Saale und als Sterbetag den 18. Dez. 1940 angibt, wurde versucht die Angehörigen über Emils Tod in Grafeneck zu täuschen.
Recherche und Text: Bettina Eger und Gebhard Klehr
Pate/Spender des Kleindenkmals: Wolfgang Heiss, Allmendingen
Quellen:
StA Lu F 235 III Staatl. Heilanstalt, Winnenden, Patientenblätter Bü 683
StA Si Wü 42 Bd. 61 Nr. 182
StA Si Wü 42 Bd. 92 Nr. 444 Quadr. 19 “Grafeneckaktion” Weissenau
StadtA Stgt Bestand 251/1 Bürgerhospital Patientenakte Emil Rohrer (geb. 1913)
StA Stgt Familienregister Rohrer/Raible Stgt. Bd. 79, S. 391
Stuttgart zu Fuß“, Silberburgverlag Tübingen, 3. Auflage 2006
Stuttgart Geschichte der Stadt“, Konrad Theiss Verlag Stuttgart und Aalen, 1973
Foto: Staatsarchiv Stuttgart
Grafeneck 1940 – 2010, eine deutsche Geschichte
Kurzvortrag bei den „Stolpersteinverlegungen“ von Karl Schrack in Degerloch, Johann Uebler in Vaihingen (Dachswald) und Emil Rohrer in S–Mitte, Text: Harald Habich.
Anmerkung: Herr Harald Habich ist der Erfinder und Organisator der „Spur der Erinnerung“, die Oktober 2009 von Grafeneck bis zum Innenministerium nach Stuttgart in die Dorotheenstr. führte.
Sehr geehrte Damen und Herren,
dass wir hier zum Gedenken für Emil Rohrer stehen, ist ein außerordentlicher und ungewöhnlicher Umstand. Denn das Gedenken an ein Euthanasieopfer in der Gemeinde ist eine Besonderheit, weil es bisher kaum vorgekommen ist.
Anfangs dachte ich, dass die Opfer der NS-Euthanasie einfach vergessen wurden. Ein naiver Gedanke – richtig ist, dass die Opfer der Euthanasieverbrechen systematisch in der Nachkriegszeit verschwiegen wurden.
Der Name Grafeneck ist heute nicht mehr fremd – viele Menschen wissen inzwischen, was sich mit diesem Namen verbindet:
• Grafeneck steht als ein Ort des Todes,
• Grafeneck steht für den Ort der ersten Massenvernichtungsanstalt in Deutschland,
• Grafeneck steht für das totale Versagen der religiösen und der moralischen Institutionen und für den Beginn der Barbarei.
• Grafeneck steht für die Weigerung der Kirchen und der Justiz, für die eigenen zentralen Werte einzutreten.
• Grafeneck war aber auch einmal ein Ort der Hilfe und ist es nach dem Krieg auch wieder geworden.
Ein Jahr genügte, um Grafeneck – die „Landespflegeanstalt“ – als Unort zu fixieren.
• Es war der Zeitrahmen vom 18. Januar bis zum 13. Dezember 1940.
• 10.654 Menschen – Kinder, Jugendliche, Frauen und alte bis sehr alte Menschen wurden mit Gas ermordet.
• Die Angehörigen erhielten einen ärztlichen Trostbrief mit einer Todesangabe und eine standesamtliche Sterbeurkunde
• perfekt gelogen, gefälscht und betrogen.
Warum?
Lebensunwert – unproduktiv – erbkrank – Ballastexistenzen waren die Bewertungen für die Opfer und galten als Todesurteil, abgegeben von ärztlichen Gutachtern.
Im späteren Auschwitz war die Bahnrampe der Ort der Selektion – in der Euthanasie war es das im wohltemperierte Büro der medizinischen Gutachter. Sie befanden am Schreibtisch über das Lebensrecht der Patienten.
Und die Mörder?
• Waren Akademiker, kamen aus der Verwaltungselite und wurden durch die Wissenschaft, der Gesundheits- und Wohlfahrtsverwaltung unterstützt.
• Ruhig verhielten sich die Eliten aus Kultur- und Wissenschaft
• und mit einem Schweigen haben die Kirchen und die Justiz das große Morden begleitet.
Nach dem großen Krieg, der Zeit von Demokratie und Freiheit blieb alles beim Alten:
• die Verantwortlichen hatten wieder ihre bisherigen Plätze:
• als Universitätsprofessoren, als Ärzte, als Beamte in der Gesundheits- und Sozialverwaltung sowie in den Wohlfahrtsverbänden und als Richter und Staatsanwälte.
Ruhe war in der Nachkriegszeit angesagt.
Schweigen wie während der Vernichtungszeit.
Und Stille war die Tugend der Kirchen, der Justiz, der Wohlfahrtsverbände und der Sozial- und Gesundheitsbürokratie, bis es nicht mehr auszuhalten war.
Erst langsam, in den 1980er Jahren, wurden die NS-„Euthanasieverbrechen“ angesprochen.
Nicht durch die Kirchen, die Geschichtswissenschaft oder die Sozialverwaltung – nein, Betriebsräte und freie Publizisten waren es.
Allmählich in den 1990er Jahren – 45 Jahre nach dem Niedergang der Gewaltherrschaft – wurde begonnen, systematisch zu untersuchen, wer denn überhaupt in Grafeneck ermordet, aus welchen Anstalten die Opfer kamen und wie der Massenmord organisiert war.
Ganz langsam, nun nach 70 Jahren, kommen mit den Stolpersteinen die ermordeten kranken und behinderten Menschen zurück in ihre Herkunftsgemeinden.
Es ist spät – aber noch nicht zu spät.
Harald Habich
An Emil Rohrer erinnert ein StolperKunst-Video der Künstlerin Stefanie Friedrich. Den Videoclip finden Sie hier.