8. November 1937 Stuttgart-Ost – 30. April 1944 Eichberg/Hessen
Als die Eltern von Günther Rüdenauer am 30. Juli 1936 heirateten, verteilte das Stuttgarter Standesamt bereits an alle Hochzeitspaare Hitlers „Mein Kampf“ als Geschenk zur Hochzeit. Der in Stuttgart 1905 geborene Packer Julius Rüdenauer und seine aus Freiburg stammende Frau Irmgard (Jahrgang 1911) wohnten im Erdgeschoss der Strombergstraße 20.
Das Haus befindet sich gegenüber der ehemaligen Strickwarenfabrik Paul Kübler – mitten im von Industrie und Arbeit geprägten Stuttgarter Osten. Alle sozialdemokratischen und kommunistischen Vereine und Parteien waren verboten, viele Menschen passten sich an. Vermutlich war es ein Schock für das Ehepaar Rüdenauer als bei ihrem Sohn Günther eine „Hirnleistungsschwäche“ diagnostiziert wurde. Günther wurde katholisch getauft. Wir wissen wenig über sein kurzes Leben in der Strombergstraße.
Statt einer Meldekarte findet sich im städtischen Melderegister nur dieser handschriftliche Zettel, der auf seine Deportation am 27.07.1944 nach Eichberg/Hessen verweist, wo er in die Abteilung 4 der „Kinderfachabteilung“ aufgenommen wurde.Statt Eichberg steht da “Eichelberg / Lutherheim” – vermutlich wurde dies mündlich falsch überliefert.
Unter der Patientennummer 606 diagnostizierten die Ärzte in Eichberg „Hirnleistungsschwäche, Durchfall und Herz- und Kreislaufschwäche“ als Todesursache bei Günther Rüdenauer.
Vermutlich wurde dem Jungen in den zwei Monaten, die er in der „Kinderfachabteilung Eichberg“ war, Luminal verabreicht, ein Schlafmittel, das Durchfall und Herz-/Kreislaufschwäche als Nebenwirkung hat. Fernab von seiner Familie und in den Händen herz- und gewissenloser Ärzte und Pflegerinnen starb Günther Rüdenauer im Alter von nur sechs Jahren. Er wurde am 05.10.1944 auf dem Alten Friedhof Eichberg/Hessen in Feld E, Grabnummer 197 beerdigt. Dass bis 1985 kein Gedenkstein auf dem Alten Friedhof an die Opfer der „Kindereuthanasie“ erinnerte und die nahegelegene Klinik auf dem Eichberg (Vitos-Klinik) ohne Unterbrechung psychisch kranke Menschen behandeln konnte und aktuell einen Neubau auf dem Gelände des Alten Friedhofs plant, zeugt auch nach dem Ende des Nationalsozialismus noch von ungeheurer Unmenschlichkeit gegenüber dem Leid der Opfer.
In Erinnerung an das Ostheimer Kind Günther Rüdenauer, das – ermordet von Ärzten in der NS-Zeit – in tiefster Verlassenheit in Eichberg/Hessen starb, erinnert künftig ein Stolperstein, den Gunter Demnig am 9. Juli 2020 um 12:00 Uhr vor dem Elternhaus in der Strombergstr. 20 verlegt (hat).
Recherche: Gudrun D. Greth, Tessa von Ledebur (Initiative Stolpersteine Stuttgart-Ost)
“Kindereuthanasie”
In die Vorstellung des NS-Regimes von einer „reinrassig-arischen Volksgemeinschaft“, die die Herrschaft nicht nur über das eigene Volks übernimmt, sondern einen bis dahin beispiellosen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug startete, der zunächst die politischen Gegner verfolgte und ermordete, passten weder Kranke noch Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen – sie wurden als „unnütz“ dargestellt, systematisch erfasst und ermordet. An ihnen – auch an kranken Kindern – erprobte man die systematische Ermordung von Millionen Menschen. Der NS-Staat verfolgte und ermordete Menschen aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Volkszugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer Sexualität und selbst aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Unmutsäußerungen.
Hitler hatte bereits 1929 unter Berufung auf darwinistische Wissenschaftler wie Alfred Ploetz auf dem „Reichsparteitag“ in Nürnberg erklärt, dass die „Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich, eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung“ – der Begriff der „Rassehygiene“ sollte der Bevölkerung plausibel machen, dass der NS-Staat Kinder mit Behinderung einem „sanften Tod“ („Euthanasie“) zuführt.
Die Umsetzung der systematischen Ermordung wurde mit Beginn des 2. Weltkrieges als wirtschaftliche Notwendigkeit dargestellt und in grausamer Weise bis Kriegsende umgesetzt. Etwa 5000 Kinder fielen dieser NS-Tötungsaktion zum Opfer. Das Schreiben einzelner Eltern an Hitler mit der Bitte um „Gnadentod“ für ihr schwer behindertes Kind wurde zum Anlass für einen Runderlass des „Reichsministeriums des Inneren“ genommen, der alle Hebammen, Ärzte und Gesundheitsämter verpflichtete, Neugeborene und Kleinkinder zu melden, die als schwach oder behindert anzusehen und damit der Ermordung zu überstellen waren.
Für jede Meldung einer „verdächtigen Kindes“ wurden 2 Reichsmark bezahlt.
„Falls das neugeborene Kind verdächtig ist mit folgenden schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein:
1. Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind),
2. Mikrocephalie,
3. Hydrocephalus, schweren bzw. fortschreitenden Grades,
4. Mißbildungen jeder Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw.,
5. Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung“
Betroffene Kinder wurden in sogenannte „Kinderfachabteilungen“ eingewiesen, die in Wirklichkeit Tötungszentren in bestehenden Kliniken waren, in denen unter ärztlicher Leitung Kinder z.B. mit Überdosen des von der Pharmafirma Beyer hergestellten Schlafmittels Luminal getötet wurden.
Teilweise wurden die Kinder unter falschen Versprechungen aus ihren Familien geholt: In der Klinik würden sie geheilt, lernten sie sprechen oder könnte man sie medizinisch besser versorgen als zu Hause… Vielfach versuchten Eltern erfolglos ihre Kinder zurückzuholen. Die meisten der Kinder, die an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ gemeldet wurden, wurden nicht in Augenschein genommen von den Ärzten, die mittels eines roten Kreuzes ihr Todesurteil verhängten.
Die systematische Ermordung der etwa 5000 kranken und behinderten Kinder wurde unglaublich lange verdrängt oder verleugnet. Wesentliche Täter lebten unbehelligt und arbeiteten weiter als Ärzte, genossen ihre Pension, Angehörige strengten Prozesse an gegen Journalisten und Wissenschaftler, die die Geschichte der Krankenmorde und der Zwangssterilisationen in Stuttgart öffentlich machten.
Dr. Karl Horst Marquart stellt in seinem 2016 erschienenen Buch “Behandlung empfohlen – NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart” das Ergebnis seiner Recherchen zur „Kindereuthanasie“ u.a. anhand der Sterbelisten in Stuttgart dar: Insgesamt wurden 74 Stuttgarter Kinder in „Kinderfachabteilungen“ ermordet: 55 Kinder in Stuttgart (davon 13 aus dem Umland und neun Kinder von Zwangsarbeiterinnen), 39 Stuttgarter Kinder in Eichberg/Hessen und 2 Stuttgarter Kinder in Ansbach.
Das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” gab zwar der „eugenischen“ Sterilisation und Abtreibung eine gesetzliche Grundlage, nicht aber den Tötungen. Rechtlich gesehen galt daher auch im NS-Staat das Töten von Menschen als Totschlag oder Mord. Daher versuchte man die Tötungen auch geheim zu halten.
Nach 1945 stellten Politik, Justiz und Bundestagsmehrheit die Krankenmorde als durch das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” gerechtfertigt dar. Damit wurden die verantwortlichen Ärzte entlastet und die Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen mit der gleichen Argumentation abgewehrt wie die der Zwangssterilisierten. Erst als kaum mehr einer der Tötungsärzte belangt werden konnte und es kaum mehr Hinterbliebene gab, die klagten, rang sich der Bundestag zur “Ächtung” des NS-Gesetzes durch.