Anna Schwabacher, geb. Flegenheimer wurde am 11.11.1889 in Stuttgart geboren. Sie war die älteste von vier Töchtern ihrer Eltern Moses Flegenheimer und Emma Flegenheimer, geb. Löwenthal. Moses Flegenheimer, Inhaber einer „Getreide- und Mehlgroßhandlung“ und einer „Presshefe- und Spritfabrik“, zählte nach dem Ersten Weltkrieg zu den etwa drei Dutzend Stuttgarter „Millionären, die sich zur mosaischen Religion bekennen“.
Mit 19 Jahren heiratete Anna Schwabacher den 11 Jahre älteren jüdischen Kaufmann und späteren Bankdirektor der „Darmstädter und Nationalbank Stuttgart“, Louis Schwabacher. 1911 wurde ihr Sohn Kurt, 1920 ihr Sohn Manfred geboren. Die Familie wohnte in der Hohenstaufenstraße. Nach 18 Jahren zerbrach die Ehe; sie wurde 1926 geschieden.
1939: Flucht aus Deutschland
1926 wird für die alleinerziehende und nicht berufstätige Mutter mit zwei Kindern („Direktors-Gattin“ stand in ihrem Reisepass von 1928) vermutlich eine sehr schwierige Zeit begonnen haben. Nicht finanziell – da stand ihr der Vater zur Seite –, doch persönlich und vor allem auch in ihrer gesellschaftlichen Stellung.
1929 wurde ihr Sohn Kurt zu seiner weiteren kaufmännischen Ausbildung nach Antwerpen geschickt (in einen Zweigbetrieb der Getreideexport-Firma „Weil Hermanos & Co.“ in Buenos Aires) und ein Jahr darauf weiter nach Rotterdam (in die Firma „L. Hendrix, Großhandel in Pflanzenölen, Ölsaaten und Tierfetten“). Er sollte, so war es geplant, später einmal in Stuttgart die Nachfolge seines Großvaters antreten. Dieser hatte keinen männlichen Nachkommen.
1930 zog Anna Schwabacher mit ihrem jüngeren Sohn, dem 10-jährigen Manfred, in die Bismarckstraße 77. Als zwei Jahre später ihre Mutter starb, zog Anna Schwabacher mit Manfred zu ihrem Vater in den Herdweg 37, in die Jugendstilvilla, die er 1916 erworben hatte. Die Adressbücher der Stadt Stuttgart verzeichnen von 1933 bis 1939 neben „Flegenheimer, M., Fabrikant [ab 1934: Privatmann]“ auch „Schwabacher, A., Fr.“
Moses Flegenheimers Erfahrungen schon in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Machteroberung zerstörten seine Zukunftspläne und alle damit verbundenen Hoffnungen. Er reiste deshalb im Juli 1933 zu seinem Enkel nach Rotterdam und erklärte diesem, dass er mit der Vernichtung seines Betriebes in Stuttgart rechne. Ihm, dem größten Getreidehändler in Süddeutschland, waren alle Direktimporte aus Argentinien verboten worden. Auch hatte er bereits vier Vorstands- und Aufsichtsratsämter niederlegen und den Großteil seiner Aktien abgeben müssen. Kurt solle darum, so der Rat des Großvaters, in den Niederlanden bleiben und die Übersiedlung seiner Mutter und seines Bruders vorbereiten.
Spätestens 1933 ist für Anna Schwabacher zum zweiten Mal eine Welt zusammengebrochen. Sie musste miterleben, dass über dem Eingang der väterlichen Firma bereits im Frühjahr diesen Jahres ein großes Plakat angebracht wurde: „Vorsicht! Judenbetrieb!“; dass ihr Vater gezwungen war, Jahr für Jahr immer höhere Defizite mit Zuschüssen von seinem Privatkonto auszugleichen; dass die Firma 1937 liquidiert wurde. Und sie musste in diesen Jahren mitertragen und mit ansehen, wie auch in Stuttgart die jüdischen Einwohner ihrer Würde beraubt und finanziell ausgeplündert wurden: die Boykottierung jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien; Berufsverbote für Journalisten und Künstler; Besuchsverbote öffentlicher Bäder, Kinos, Theater und Museen; die Schilder „Juden unerwünscht“ in Läden und Restaurants; die „Reichsfluchtsteuer“ für Auswanderer und die „Judenvermögensabgabe“ als „Sühneleistung“ für die „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“.
Vor diesem verzweiflungsvollen Hintergrund hat Anna Schwabacher wohl zugestimmt, dass ihr Sohn Manfred im Februar 1936 seinem Bruder nach Rotterdam nachfolgte. Ihn sollte sie nicht wiedersehen. Er arbeitete zunächst in den Niederlanden als landwirtschaftlicher Gehilfe und wanderte zwei Jahre später nach Kanada aus. Er erwarb dort den akademischen Grad eines „Bachelor of Science in Agriculture (Chemistry Option)“, nahm 1945 den Namen Frederik J. Stevens an und zog 1954 in die USA um.
Auswanderungsgedanken werden auch Anna Schwabacher beschäftigt haben, insbesondere seit den November-Pogromen von 1938, der „deutschen Kriegserklärung an die Juden in Europa“. Im Blick auf ihren 77-jährigen Vater, der nicht mehr emigrieren wollte – oder es aus Gesundheitsgründen auch nicht mehr konnte? –, wird sie lange gezögert haben, diesen Schritt zu tun, den ihre drei Schwestern bereits getan hatten. Schließlich entschloss sie sich doch dazu.
Sie stellte einen Ausreiseantrag und erhielt Anfang Juni 1939 von der Devisenstelle der Oberfinanzdirektion Stuttgart die Umzugsgenehmigung unter der Voraussetzung, dass sie 2.200,- RM als „ersatzlose Abgabe“ zahle. Ausdrücklich erlaubt wurde ihr die Mitnahme einer Uhr, zweier Silberbestecke und ihres Eherings, ausdrücklich verboten die Mitnahme von 10 Fl. Schaumwein und 12 Fl. Likör.
Tod in Auschwitz
Am 10.7.1939, drei Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, traf Anna Schwabacher in Rotterdam ein. Gerettet in den Niederlanden? Rotterdam als Zufluchtsort vor dem Zugriff der Nazis? Wenigstens relative Ruhe, Aufatmen, Zusammensein in der eigenen Familie und mit der neuen Verwandtschaft, Begegnungen auch mit anderen jüdischen Emigranten aus Deutschland?
Anna Schwabacher zog in das Haus ihres Sohnes Kurt in der Mattenesserlaan, der dort mit seiner Frau Henriette, geb. van den Bergh, und der damals neun Monate alten Tochter Anne Simone wohnte. Drei Monate nach ihrer Flucht aus Deutschland starb in Stuttgart Moses Flegenheimer.
Und dann geschah, was viele zunehmend befürchtet hatten: Am 10.5.1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die neutralen Niederlande. Deren Kapitulation erfolgte vier Tage später. Die Niederlande wurden zum deutschen „Reichskommissariat“ erklärt. Und schon wenige Monate später setzte eine Flut von Verordnungen und gesetzlichen Regelungen ein, die den ca. 140.000 Juden – darunter 14.000 deutschen – schrittweise ihre Rechte nahmen: Beamte wurden entlassen, ganze Berufsstände verboten, Juden wurden von allen öffentlichen Einrichtungen ausgeschlossen, ihre Unternehmen schrittweise „arisiert“, ihre Kinder durften nur noch rein jüdische Schulen besuchen, ihre Pässe wurden durch ein großes „J“ markiert, selbst ihre Fahrräder registriert, ihre Radiogeräte eingezogen. Schließlich war mit der Einführung des „Judensterns“ im Mai 1942 das Ausmaß ihrer Entrechtung, wirtschaftlichen Ausbeutung und gesellschaftlichen Isolation so groß wie in Deutschland.
Anna Schwabacher, die eine derartige Entwicklung wahrscheinlich vorausgeahnt hatte, war schon im Oktober 1940 aus Rotterdam ins Landesinnere ausgewichen und in Nijmegen untergetaucht, zuletzt versteckt im Haus einer Tante ihrer Schwiegertochter Henriette. Sie war damit eine von insgesamt etwa 20.000 in den Kriegsjahren „Untergetauchten“, die entweder – wie sie – in Verstecken oder aber mit gefälschtem Pass an einem neuen Wohnort lebten. Die deutsche Verwaltung hatte auf sie alle ein Kopfgeld ausgesetzt. Es gab viele „Kopfgeld-Jäger“, die mit den Verhaftungsprämien ihren Unterhalt bestritten.
Nach zwei Jahren wurde Anna Schwabacher in Nijmegen verhaftet und am 18.11.1942 in das „Polizeiliche Judendurchgangslager Westerbork“ eingeliefert.
Von dort aus fuhren seit Juli 1942 Züge mit jeweils etwa 1.000 Häftlingen ab „zum Arbeitseinsatz in Deutschland“, wie es offiziell hieß. Tatsächlich aber war Auschwitz das Ziel dieser Deportationen. So wurden bis September 1944 insgesamt ca. 101.000 Menschen in den Tod geschickt – die meisten von ihnen Juden, aber auch einige hundert Sinti und Roma und niederländische Widerstandskämpfer.
Als Mitglied des „Jüdischen Rates“ bemühte sich Kurt Schwabacher vergeblich, seine Mutter vor diesem Schicksal zu bewahren.
Der „Joodse Raad“ war eine auf Befehl der Deutschen errichtete Organisation mit ca. 10.000 jüdischen Mitarbeitern. Sie war landesweit zuständig für die Ausführung der judenspezifischen Regelungen in der Sozialfürsorge, in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern und perfider Weise sogar für die Zusammenstellung der Transporte nach Westerbork. Das traf im Juli 1943 auch Kurt Schwabacher selbst und seine Familie.
Der Name seiner Mutter hatte schon am Montag, dem 22.2.1943, auf der Deportationsliste von Westerbork gestanden. Anna Schwabacher wurde am Freitag, den 26.2.1943, in Auschwitz ermordet.
7 von 4.876
Anna Schwabachers ehemaliger Mann Louis war im November 1942 in Izbica ermordet worden. Ihr Sohn Kurt war mit Frau und Tochter im Konzentrationslager Bergen-Belsen dem Tod entgangen und im Juni 1945 in die Niederlande repatriiert worden. Ihr Sohn Manfred hatte in Kanada überlebt. Auch ihre drei Schwestern hatten noch rechtzeitig emigrieren können: nach Frankreich, nach England, in die USA.
Sieben Angehörige einer angesehenen Stuttgarter Familie. 7 von 4.876 jüdischen Einwohnern, die 1933 in Stuttgart lebten. Etwa 2.000 von ihnen gelang die Flucht ins Ausland, alle übrigen wurden deportiert, die meisten von ihnen ermordet. Bei Kriegsende gab es in Stuttgart noch 123 jüdische Bürger.
Recherche und Text: Dr. Wolfgang Harder/Stuttgart und Brigitte Pieters-Harder/Leeuwarden, Initiativkreis „Stolpersteine für Stuttgart Nord“ (www.stolpersteine-stuttgart.de),
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, auch Foto, Stadtarchiv Stuttgart, Baurechtsamt und Stadtmessungsamt Stuttgart, Herinneringscentrum Kamp Westerbork – Hooghalen NL, Joods Historisch Museum – Amsterdam NL.