Hermann Thalmessinger wurde am 13. Juli 1869 in Ulm geboren, als sechstes von zehn Kindern des Bankiers Nathan Thalmessinger und seiner zweiten Frau Jette geb. Steiner. Ein Bruder der Mutter war der später geadelte Begründer der Württembergischen Vereinsbank, Dr. Kilian Steiner (s. LIT Otto K. Deutelmoser, Kilian Steiner und die Württembergische Vereinsbank, Stuttgart 2003). Vater Nathan wurde noch in Pflaumloch bei Nördlingen geboren, wo sein Großvater Mordechai Thalmässinger Rabbiner war und wo bis heute die ehemalige jüdische Synagoge als Rathaus dient. Mit seiner ersten Frau, Caroline geb. Reichenbach, einer Kusine der zweiten Frau, hatte er fünf Kinder. Die Steiners stammten aus Laupheim südlich von Ulm, ebenfalls einem Dorf mit einer großen jüdischen Gemeinde. Hermann gehörte also zu einer alteingesessenen jüdischen Familie mit vielfältigen familiären Beziehungen, bis nach Hohenems im heutigen Vorarlberg. Es gibt im Fränkischen einen Ort Thalmässing, der eine große jüdische Gemeinde hatte, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Der Familienname, den alle Juden sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zulegen mussten, geht wahrscheinlich auf diesen Ort zurück.
Hermann schloss in Ulm das Realgymnasium mit der Mittleren Reife ab, wurde Ingenieur und Kaufmann und war längere Zeit im Ausland, wohin er auch vielfältige verwandtschaftliche Beziehungen hatte. Das nächste gesicherte Datum ist seine Verheiratung mit Sophie Fröhle, ebenfalls aus Ulm (geb. 1878), am 20.Mai 1906 in Augsburg. Sophie Fröhle war evangelischer Konfession. Die beiden Söhne Max und Fritz kamen am 19.7.1907 bzw. am 23.9.1909 in Böblingen zur Welt, wo er wohl damals schon für die Brauerei Zahn arbeitete, nach dem Umzug der Familie 1921 nach Stuttgart als Brauereidirektor, das heißt Prokurist, dieser Firma. Auch der jüngere Bruder, Rechtsanwalt Dr. Otto Thalmessinger, lebte mit seiner Familie in Stuttgart, wo er 1909 in der Lenzhalde 42 ein Haus errichtet hatte. Sohn Max arbeitete als Kaufmann in der Lederindustrie, Sohn Fritz machte am Dillmann-Gymnasium Abitur und studierte Jura in München, Berlin und Tübingen, wo er 1932 sein Erstes Examen ablegte.
Sohn Max ging bereits ca. 1928 nach Indien, wo er für die deutsche Lederfirma Delta Hide Company in Cawnpore (heute Kanpur) in Uttar Pradesh arbeitete; später kaufte er die Firma, als die Besitzer zurück nach Deutschland gingen. 1934 holte er Fritz nach, nachdem dieser aufgrund der Nazigesetze nach Mitte 1933 seinen Referendardienst nicht mehr fortsetzen konnte. Immerhin gelang ihm vor der Ausreise noch der Abschluss seiner Promotion in Tübingen.
Die Familie Hermann Thalmessinger hatte zunächst in der Bismarckstraße 79 gewohnt, ab 1928 ist die Familie im Stuttgarter Adressbuch unter der Adresse Johannesstraße 42/2.OG verzeichnet. Auch als seine Frau Sophie am 3.11.1938 mit sechzig Jahren verstarb, blieb der Witwer dort wohnen.
Zu seinem 70. Geburtstag im Sommer 1939 kamen Sohn Max mit Frau Enid und Tochter Anne aus Indien zu Besuch und verbrachten mehrere Wochen in Deutschland, bis ganz kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Zum wiederholten Male bot er dem Vater an, ihn mit nach Indien zu nehmen, aber dieser fühlte sich zu alt, um noch einmal „verpflanzt“ zu werden.
Wie rasant sich die Verhältnisse in Deutschland nach Kriegsbeginn gegen die jüdische Bevölkerung wenden würden, war vor allem für alte Menschen kaum vorstellbar. Die junge Generation, die Söhne, die Neffen und Nichten, hatten Deutschland bereits verlassen. Dies traf auch auf die Kinder der Schwester Rosa zu, die mit ihrem Mann, dem Arzt Dr. Ludwig Hecht, in Ulm geblieben war. Ihre Kinder gingen nach USA, Mexiko und Italien, die Kinder von Bruder Otto nach England und Frankreich. Otto Thalmessinger wurde im Februar 1942, kurz vor den Massenmorden an Stuttgarter und Württemberger Juden bei Riga, zusammen mit seiner Frau und deren Mutter nach Buchau am Federsee „evakuiert“. Dort nahm er sich im Juli 1942 das Leben. Frau und Schwiegermutter wurden im selben Zug wie ihre Verwandten Rosa und ihr Mann, der Arzt Ludwig Hecht, am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo alle innerhalb weniger Tage bis Monate umkamen.
Hermann Thalmessinger hatte zunächst „Glück“: Aufgrund der Tatsache, dass seine Frau keine Jüdin gewesen war, gehörte er zu einer Gruppe „Privilegierter“, die zunächst weiter in Stuttgart wohnen blieben. Allerdings mussten natürlich auch sie alle den Judenstern tragen und waren bezüglich Versorgung auf den Judenladen in der Seestraße angewiesen, von den übrigen gegen sie gerichteten Schikanen ganz abgesehen. Im Herbst 1943 musste Hermann Thalmessinger zu Familie Riekert nach Tübingen-Lustnau umsiedeln. Frau Irene Riekert geb. Wallensteiner war eine entfernte Verwandte. Ihre Mutter hatte sich am 19. August 1942 das Leben genommen, um der Deportation zu entgehen.
Ab Januar 1944 galten die „Privilegien“ dann nicht mehr: etwas weniger als 80 alte Menschen, deren nicht-jüdische Ehepartner bereits verstorben waren, wurden vom Nordbahnhof aus nach Theresienstadt deportiert, so auch die etwas weitläufiger Verwandten Frau Gertrud Nast-Kolb, (s.LIT Margot Weiß, „Was mich aufrecht erhielt, war die Post…“, Stuttgart 2012) und Frau Sofie von Eiff. Hermann Thalmessinger war einer der wenigen Männer in dieser Gruppe.
Trotz der Zustände in Theresienstadt haben einige dieser Spätdeportierten die Lagerzeit überlebt, so auch Hermann Thalmessinger. Die Stadt Stuttgart startete im Juni 1945 eine Rückholaktion von Überlebenden aus Theresienstadt. In dem Gedenkbuch „Leben und Schicksal der Stuttgarter Juden“ von Maria Zelzer befindet sich eine ausführliche Schilderung dieses Unternehmens, mit dem Dr. Weil von OB Klett betraut worden war und an dem Gertrud Nast-Kolbs Sohn Fritz beteiligt war. Dort ist auch zu lesen, dass die Mutter von Gertrud Nast-Kolb, Frau Clarisse Steiner, zu krank war, um die Fahrt mitzumachen, und kurze Zeit später in Tschechien verstarb.
Hermann Thalmessinger hatte in Stuttgart keine nahen Verwandten mehr. So lieferte ihn, da er sich in erbärmlichem Gesundheitszustand befand, das Rote Kreuz am 28. Juni im Bürgerhospital ab.
Die neu angelegten Krankenakten sind Zeitdokumente der besonderen Art. Auf dem Umschlagdeckel des Bürgerhospitals hatte man ihn vom Brauereidirektor zum „Brauereidiener“ degradiert. Dann heißt es: „Inzwischen wurde in Erfahrung gebracht, dass der jetzt 76jährige Pat. im März 1945 in Theresienstadt im dortigen Krankenhaus auf der psychiatrischen Abteilung aufgenommen und am 22.6.45 von dort hierher entlassen wurde. In dem kurzen Überweisungszeugnis heißt es: Th. wurde mit Symptomen einer Dementia arteriosklerotica geführt. Er war meist apathisch und bot zeitweise einen amnestischen Symptomenkomplex. Sehr unrein. Weitere Unterbringung in einer Anstalt notwendig.“
Zwar wird an einer Stelle konstatiert, der Patient sei „abgemagert“, an anderer Stelle heißt es jedoch, sein Allgemeinzustand sei „dem Alter entsprechend“. Betont wird auch mehrfach die „Stuhl- und Urininkontinenz“. Ein Zusammenhang mit dem Aufenthalt in Theresienstadt und den dortigen Zuständen wird nirgends hergestellt.
Am 26. Juli 1945 wird Hermann Thalmessinger in die Heilanstalt Winnenthal bei Winnenden überführt, wo er immerhin wieder mit der Berufsangabe „Brauereidirektor“ geführt wird. Der körperliche Befund ergab, er sei 165 cm groß und wiege 48 Kg. Weiter heißt es: „Zähne fehlen zum größten Teile.“ Dann die ominöse Feststellung: „Ohrläppchen angewachsen.“
Über einen Zusammenhang des körperlichen und psychischen Zustands mit der Deportation verliert auch diese Krankenakte nirgends ein Wort. Am 22. September heißt es: „Wird heute von seinem Neffen, einem amerikanischen Soldaten abgeholt u. in das Königsheim bei Hohenheim verbracht.“ Dieser Neffe müsste der Sohn von Hermann Thalmessingers Schwester Rosa gewesen sein, die zusammen mit Ihrem Ehemann Dr. Ludwig Hecht von Ulm aus nach Theresienstadt deportiert worden war. Beide starben dort nach wenigen Monaten.
Natürlich hatten auch die Söhne in Indien inzwischen erfahren, dass der Vater am Leben war und sich in schlechtem gesundheitlichem Zustand befand. In einem Brief von Max an seine Kusine Mari Elisa Thalmessinger in England werden die Besorgnis und das Entsetzen deutlich. Allerdings war eine Reise nach Deutschland zu der Zeit kaum möglich, außerdem war Max bereits in den 30er Jahren schwer an Kinderlähmung erkrankt und auf den Rollstuhl angewiesen. Die frühere Verlobte von Fritz, Hilde Thiermann, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mit ihm nach Indien gegangen war, kümmerte sich um den Kranken. Auch ein Fräulein Frieda Hummel aus Weikersheim erkundigte sich im Bürgerhospital noch 1946 nach ihm – aller Wahrscheinlichkeit nach war sie die Hausangestellte gewesen, die den Witwer in der Johannesstraße versorgt hatte.
Vom Königsheim aus kam er in das Sanatorium Dr. Katz in Degerloch, wo er am 21.8.1946 starb. Seine letzte Ruhestätte auf dem Pragfriedhof im Urnengrab seiner Frau Sophie wurde erst nach der Stolpersteinverlegung 2008 aufgelassen.
Recherche und Text: Susanne Bouché, Stolpersteine Stuttgart-Nord 2008/2014.
Quellen: Stadtarchiv Stuttgart, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Staatsarchiv Ludwigsburg, vielfältige Zeugnisse, Bildmaterial und E-mails/Briefe von Verwandten insbesondere aus England. – Fotos aus Privatbesitz.