Susanne (genannt Suse) Weil, wurde am 4.Juni 1906 in Stuttgart geboren, ihre Schwester Marianne am 14.Februar 1909 ebenfalls in Stuttgart. Die Mutter Paula geborene Oppenheimer stammte aus Heilbronn, ihr Vater war Mitinhaber der Firma „Emil Oppenheimer &Co.“, einem Gewürze- und Därme- Importgeschäft, das „Maschinen und Utensilien für Fleischerei und Charcuterie“, also Wurstwaren, vertrieb. Der Vater Dr. Max Weil stammte aus Laupheim, die Familie war 1874 nach Ulm gezogen. Gesichert ist, dass er Medizin studierte und 1892 an der Universität Heidelberg die Approbation erhielt, danach arbeitete er als Assistenzarzt zwei Jahre in der Universitätsklinik Straßburg.
Nach seiner Promotion Anfang 1894 in Heidelberg übersiedelte er nach Stuttgart und wohnte zunächst in der Neckarstraße 23, wenige Häuser von der inzwischen verwitweten Mutter und der noch jungen Schwester Selma entfernt. Im Stuttgarter Adressbuch ab 1895 ist er als „prakt. Arzt“ aufgeführt, ab 1898 dann als Nervenarzt. Ab da bis zu seiner Eheschließung wohnte er mehrere Jahre mit Mutter und Schwester in der Neckarstraße 7b im selben Haus.
Nach der Heirat mit der 14 Jahre jüngeren Paula Oppenheimer 1905 in Heilbronn zog das Paar zunächst in die Kronenstraße 33, wo ein Jahr später Tochter Susanne zur Welt kam. Das Datum des folgenden Umzugs ist auf den Tag genau einem Nachtrag zum Adressbuch von 1908 zu entnehmen, wo es unter dem Namen von Max Weil heißt: „vom 3. Septbr. ab Sattlerstr. 25p“. In dieser direkt hinter dem Katharinenhospital gelegenen Straße stand damals, bis zur Zerstörung im 2. Weltkrieg, eine imposante Reihe von Gründerzeithäusern. Hier wurde 1909 die Tochter Marianne geboren.
In diesem Haus wuchsen die Mädchen auf. Ein Stück weiter oben Ecke Relenbergstraße, in der Panoramastrasse 15, wohnte die ebenfalls in Laupheim im gleichen Jahr wie Max Weil geborene Witwe Clarisse Steiner, deren älteste Enkelin Dora mit der gleichaltrigen Marianne Weil in die Klasse ging. Ihre Eltern, Dr. Viktor Steiner und seine Frau Johanna, waren mit der Familie des Kollegen Weil befreundet. Dora Steiner besuchte das Königin- Katharina- Stift bis zum Abitur, woraus wir indirekt schließen können, dass auch die Schwestern Weil diese Schule besuchten, mindestens wohl bis zur Mittleren Reife. Dora Steiner war es auch, die 1980 in London für das Holocaustzentrum Yad Vashem in Israel Gedenkblätter für ihre „beste Schulfreundin“ und deren Schwester ausfüllte.
Die einzigen direkten Dokumente, die wir von den Schwestern haben, sind Passanträge aus dem Staatsarchiv in Ludwigsburg mit Fotos aus den Jahren 1922 bzw. 1930. Wie es in den Passanträgen heißt, wollten sie 1922 „mit den Eltern“ nach Österreich reisen, beide sind Schülerinnen. Die Angaben zur Person vermerken bei Marianne, sie sei „noch im Wachsen“, 1930 ist sie dann „groß“, hat blau-graue Augen und schwarzes Haar. Suse ist 1922 „groß“, 1930 dann „mittel“, mit blauen Augen und braunen Haaren. Auf den anrührenden Passbildchen von 1922 tragen sie modischen „Geschwisterlook“, Baskenmützen und Jacken mit breitem Revers. Auch von den Eltern sind Passbilder vorhanden, von der Mutter ebenfalls von 1922, eine zarte, sensibel wirkende Frau in Hut und Pelzkragen. Vom Vater gibt es ein Foto von vor dem 1. Weltkrieg, mit Zwicker und Rauschebart, auf dem er fast älter wirkt als auf dem Portrait von ca. 1925, nun ohne Brille und nur noch einem kleinen Oberlippenbart. Als Berufsbezeichnung steht bei Marianne 1930 „Kunstgewerblerin“, in den Judenlisten von 1939 ist sie als Grafikerin vermerkt, was auf eine handwerklich- künstlerische Betätigung schließen lässt. Suse ist 1930 „Laborantin“, das ist die einzige Berufsbezeichnung, die wir von ihr haben.
Der Vater Max Weil starb 1932 mit 64 Jahren. Im Adressbuch ist für 1933 die Witwe Paula Weil noch im 2. Stock, Sattlerstraße 25 eingetragen, zwischen 1934 und 1936 dann Am Kriegsbergturm 47. Nach der Erinnerung einer Kusine von Dora Steiner, die heute bei Zürich lebt, hatte Max Weil den Freund und Arztkollegen Viktor Steiner gebeten, sich um seine beiden Töchter zu kümmern, nicht wissend, dass die Mutter Paula Weil bereits 1936, erst 54 Jahre alt, ebenfalls sterben würde. An weiterer Verwandtschaft in Stuttgart gab es noch einen Bruder von Max Weil, Ludwig, sowie die Schwester Selma, die nach dem Tod der Mutter 1912 die Wohnung beibehalten hatte. 1917 zog der Bruder mit ein, ab da führten sie einen gemeinsamen gut bürgerlichen Haushalt.
Wir kennen keine näheren Details über das Leben der Schwestern, auch nicht wie es sich unter Hitlers Terrorregime veränderte. Für die Jahre nach dem Tod der Mutter finden sich die jungen Frauen nicht in den Adressbüchern. Ob sie zu Familie Steiner gezogen waren, bleibt Spekulation. Deren Tochter Dora, Mariannes Schulfreundin, war nach ihrer Promotion im Fach Chemie 1934 nach England emigriert, da sie in Nazideutschland keinerlei berufliche Perspektive hatte.
Erst 1940 und 1941 gibt es wieder Einträge im Stuttgarter Adressbuch, in dem Juden jetzt nicht mehr alphabethisch mit allen anderen Stuttgartern zusammen erscheinen, sondern in einem separaten Teil in der Mitte des Bandes. „Weil, Marianne Sara Frl.“ und „Weil, Susanne Sara Frl.“ wohnen jetzt in der Gustav- Siegle- Straße 43, 2. Stock, nahe der Doggenburg, in einem Haus in – noch – jüdischem Besitz. Was aus dem Besitzer, dem Kaufmann Max bzw. Manasse Furchheimer wurde, der 1939 noch die erste Etage bewohnte, war bisher nicht zu ergründen. 1941 ist als Hausbesitzer F. Ehrle, Urachstraße 38 vermerkt.
1941 im Spätherbst wurden die Schwestern zusammen mit 56 meist älteren Frauen aus der Umgebung von Stuttgart nach Schloss Weißenstein bei Göppingen zwangsumgesiedelt. Dort war eines der „jüdischen Wohnheime“ oder auch „Altersheime“, die von 1939 an im Zusammenhang mit so genannten „Entjudungsmaßnahmen“ eingerichtet wurden. Da man nach Weißenstein sogar in begrenztem Umfang eigene Möbel mitbringen konnte, fühlten sich die Menschen dort, trotz sehr eingeschränkter Bewegungsfreiheit, zunächst sicher. Jedoch kaum eingezogen, wurden knapp zwanzig Personen, zu denen auch Suse und Marianne Weil gehörten, zurück nach Stuttgart auf den Killesberg verfrachtet, nur Handgepäck war erlaubt.
Am 1. Dezember 1941 kamen sie vom Nordbahnhof aus auf den Deportationstransport, der am 4. Dezember in Riga eintraf. Sofern sie bis dahin die unsäglichen Bedingungen im dortigen Lager überlebt hatten, wurden sie aller Wahrscheinlichkeit nach am 26. März zusammen mit dem größten Teil der Deportierten im „Birkenwäldchen“ bei Dünamünde erschossen.
Für Selma und Ludwig Weil wurden 2008 vor dem Haus Alexanderstraße 20 Stolpersteine verlegt. Viktor und Johanna Steiner wurden über Theresienstadt 1944 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Für sie und ihre Tante Emma Maas liegen seit 2009 Stolpersteine in der Schlossstraße 27, für Großmutter Clarisse Steiner ebenfalls seit 2009 Im Sonnigen Winkel 15.
Aus dem Wiedergutmachungsantrag Ludwig und Selma Weil betreffend geht hervor, dass keine nahen Verwandten der Familie Weil mehr vorhanden waren. Es heißt dort:
„Die Erblasser waren unverheiratet und hatten keine Kinder. Die Eltern waren schon lange vor ihnen verstorben. Auch ihre Geschwister waren entweder vor ihnen verstorben oder wurden deportiert“ – wobei sich Letzteres nur auf die Nichten beziehen kann. Das Amt für Wiedergutmachung musste auf Antrag der ehemaligen Hausangestellten den halben Erdball absuchen, um die zahlreichen weitläufigen Verwandten als Anspruchsberechtigte ausfindig zu machen.
Für die Schwestern Suse und Marianne Weil wurde von niemandem ein Wiedergutmachungsantrag gestellt. Wer auf dem Grabstein der Eltern im jüdischen Teil des Pragfriedhofs den Eintrag über das Schicksal der Töchter veranlasst hat, ist nicht bekannt.
Recherche & Text: 26.3.2010 Susanne Bouché, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.