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Franz Winzenried, Farrenstr. 52

Der Stolperstein für Franz Xaver Winzenried vor dem Haus Farrenstraße 52, Stuttgart
wurde am 01. Juli 2016 von Gunter Demnig gesetzt. Inschrift:

    HIER WOHNTE
    FRANZ WINZENRIED
    JG. 1905
    EINGEWIESEN 10.12.1936
    HEILANSTALT ZWIEFALTEN
    ‘VERLEGT’ 18.6.1940
    GRAFENECK
    ERMORDET 18.6.1940
    AKTION „T4“

Franz Xaver Winzenried kam am 2. Dezember 1905 in Neufra, Kreis Rottweil, zur Welt. Sein Vater war dort als Zimmermann tätig. Als Kind wird er miterlebt haben, wie Neufra an die Netze von Eisenbahn und Elektrizität angeschlossen wurde.
Franz lernte das Schreinerhandwerk. Er heiratete Rosa Mathilde Löhr. Das Paar bekam ein Kind.

1935 zog die junge Familie nach Stuttgart. Vermutlich hoffte Franz dort auf bessere Arbeitsmöglichkeiten. Das Stuttgarter Adressbuch 1935-1938 verzeichnete die Winzenrieds in dem gerade neu gebauten Haus Farrenstraße 52 A.  
Doch bereits 1936 brach Unheil über die Familie herein. Das Bürgerhospital stellte Franz die Diagnose “Schizophrenie”. Näheres ist über seine Erkrankung nicht bekannt. Die Psychiatrie fasste den Begriff “Schizophrenie” damals oft sehr weit.

Am 10. Dezember 1936 wurde Franz in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen, wo damals besonders pflegebedürftige Patienten untergebracht waren. Der Direktor Prof. Gruhle behandelte Schizophrenie mit einer Cardiazol-Schocktherapie, wodurch ein künstliches Koma erzeugt wird.

Damals organisierten wohltätige Vereine in der Heilanstalt noch Vorträge, Konzerte und Theateraufführungen, zu denen auch Gäste von außerhalb kamen. Ein Quartett aus Patienten und Pflegekräften musizierte, geleitet von einem Patienten. Regelmäßiges Turnen und samstags die von einem Patienten geführte Unterhaltungsbibliothek sorgten für Abwechslung in der abgeschlossenen Anstalt.

Im September 1939 ließ sich der Nazi-Gegner Prof. Gruhle zum Militär versetzen und wurde Leiter eines Lazaretts. Hintergrund ist die angeordnete Umsiedlung von 577 Patienten aus der Heilanstalt Rastatt nach Zwiefalten. Die grenznahe Anstalt Rastatt hatte die Reichsregierung zum Lazarett bestimmt.

Die Zwiefaltener Patienten wurden großenteils nach Bad Schussenried verlegt, unter ihnen am 8. September 1939 auch Franz Xaver Winzenried.

In der Folge war die Anstalt heillos überbelegt, was zwangsläufig Missstände in der Versorgung und Pflege der Patienten nach sich zog. Die Regierung hatte dies in Kauf genommen. Denn sie verfolgte eine geheime Problemlösung: die Tötung von 70.000 Patienten der Heilanstalten und Behinderteneinrichtungen im Reich. Damals ließ man bereits die Schulkinder ausrechnen, was die Langzeitkranken der Volkswirtschaft kosten und wieviele Familienheime man mit diesem Geld bauen könnte. Als die Einsparungen tatsächlich realisiert wurden, kamen sie der Kriegführung zugute.
Die Beseitigung der Kranken entsprach der nationalsozialistischen Medizinethik, wonach schwer oder nicht Heilbare “lebensunwert” seien. Nach dem Gesetz war Krankenmord jedoch auch im Dritten Reich Mord und wurde geheim gehalten.
Am 9. Oktober 1939 begann die “Euthanasie”-Aktion mit der Erfassung der Patientendaten auf Meldebögen durch die Anstaltsleitungen.
Am 16. Februar 1940 bestellte Ministerialrat Dr. Eugen Stähle die württembergischen Anstaltsleiter ins Stuttgarter Innenministerium und informierte sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit über die Aktion. Zwar ließ Dr. Stähle sie noch im Dunkeln über den zahlenmäßigen Umfang. Aber von diesem Tag an wussten die Anstaltsleiter, dass sie an Krankenmorden mitwirken sollten.
Der zum Ministerialrat ausgebildete und als Beamter auf die Verfassung vereidigte Dr. Stähle log seinen Besuchern vor, die Tötungen seien rechtmäßig. Er selbst hatte ein halbes Jahr Zeit gehabt, um diese Frage für das württembergische Innenministerium und für sich persönlich zu klären. Für die meisten Anstaltsleiter bot es sich an, seiner rechtlichen Einschätzung zu vertrauen.
In der Folge “verlegte” die staatliche Heil- und Pflegeanstalt Bad Schussenried über 600 Patienten in die eigens geschaffenen Tötungsanstalten Grafeneck auf der Schwäbischen Alb und Hadamar bei Limburg. Zwischen dem 7. Juni und dem 1. November 1940 erfolgten 9 Transporte.
Am 18. Juni 1940 brachte einer der Busse der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“ (Gekrat), die im Auftrag der Reichsbahn fuhren auch Franz Xaver Winzenried nach Grafeneck.

Bei der Ankunft mussten die Ankömmlinge sich entkleiden und wurden dem diensthabenden Arzt vorgeführt. Die “Untersuchung” dauerte einige Sekunden bis höchstens eine Minute. Es ging darum, die Nummer auf dem Arm des Patienten mit der Tötungsliste abzugleichen. Wer Zahngold im Mund hatte, bekam zusätzlich ein Kreuz auf den Arm, damit das Gold vor der Einäscherung herausgebrochen wurde. Medizinisches Wissen war gefragt, um für jeden Patienten eine halbwegs glaubhafte Todesursache zu erfinden.

Dann sagte man den Patienten, einmal entkleidet sollten sie gleich noch duschen. Zügig führte man sie in die Gaskammer, die aus einer umgebauten Doppelgarage bestand. Tatsächlich waren an der Decke Duschköpfe befestigt. Die Tür wurde verriegelt. Der Arzt ließ durch die Duschköpfe Kohlenmonoxidgas einströmen. Spätestens jetzt erkannten die Opfer den Betrug. Panik brach aus. Bis zum Eintritt des Todes vergingen 20 bis 30 Minuten. Der Arzt konnte den Vorgang durch ein Fenster beobachten.
Frau Winzenried wird drei Wochen später auf dem Briefbogen der “Landespflegeanstalt Grafeneck” einen der standardisierten “Trostbriefe” erhalten haben, dazu eine Sterbeurkunde, auf der das Standesamt die Todesursache, das Todesdatum sowie die Unterschriften von Arzt und Standesbeamten gefälscht hatte.
Zum Gedenken an den Mord gehört zuletzt auch ein Blick auf die Täter.
Viele der obersten Verantwortlichen wurden von den Alliierten unmittelbar nach Kriegsende hingerichtet oder entzogen sich der Verantwortung durch Selbstmord.
Der Grafenecker Tötungsarzt Horst Schumann lebte nach dem Krieg zunächst in Deutschland. Die Polizei kam auf seine Spur, als er ein Führungszeugnis für einen Jagdschein beantragte. Er floh um den halben Erdball. Später erkannte ihn ein Leser der Zeitschrift „Christ und Welt“. Deren Redaktionsleiter, ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer, hatte eine Bildreportage über den „zweiten Albert Schweizer“ veröffentlicht. Schumann entkam quer durch Afrika und erwarb sich die Freundschaft des Staatspräsidenten von Ghana. Erst nach dessen Sturz wurde er 1966 an Westdeutschland ausgeliefert. 1970 begann sein Prozess vor dem Landgericht Frankfurt, das ihn für verhandlungsunfähig erklärte. 1972 folgten seine Haftentlassung und 11 unbehelligte Jahre in Freiheit bis zu seinem eigenen Tod.

Recherche: Elke Martin, Recherchenetzwerk „Euthanasie“ der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen

Text: Gudrun Greth und Christian Michaelis, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Ost