„In den Abgrund – und jenseits wieder hinauf“ Umgangsweisen mit dem Bösen: Dr. med. Marga Wolf und ihre Helferinnen und Helfer.
Maria Margarete Wolf (geb. 19.1.1880 in Dresden) ist die Tochter von Alexander Alfred Wolf, Bankier und Kammerrat (gest. 1913) und Berta Wolf, geb. Hahn, die beide vom israelitischen Glauben übergetreten sind und ihre Kinder evangelisch erziehen. Ihr älterer Bruder Ludwig Paul studiert Medizin und wird Arzt in Berlin. Marga wird zunächst Johanniterlehrschwester, macht dann mit 27 Jahren Abitur und studiert Medizin in Freiburg i. Br., Jena, Leipzig und Tübingen, wo sie 1913 promoviert. Im Ersten Weltkrieg an der Russlandfront leitet sie ein Seuchenlazarett. Zurück in Stuttgart, übernimmt sie 1919 die Interimsleitung des „Charlottenhaus für Wöchnerinnen und unterleibskranke Frauen e.V.“, der noch heute existierenden „Klinik Charlottenhaus“ und eröffnet 1920 eine Arztpraxis: „Wolf, Margarete, Dr. med., Ärztin f. Frauen und Kinder, Charlottenstr. 21 A, 3. Stock“.
Marga Wolf erwirbt sich rasch einen Ruf als gute Ärztin, arbeitet unentgeltlich in Stuttgarter Kinderheimen, behandelt Arme kostenlos und findet Zeit, an der Volkshochschule Stuttgart Fachkurse als Lehrerin für Gesundheitslehre zu geben. Bei zahllosen Hausgeburten ist sie zur Stelle und in vielen kinderreichen Familien erinnert man sich heute noch gern an sie als „unsere Doktorstante“. 1931 zieht sie mit ihrer Praxis um in die Charlottenstraße 1 direkt neben das Wilhelmspalais, hat dort acht Zimmer, von denen sie vier gemeinsam mit ihrer Freundin, der Lehrerin Elisabeth Schröder bewohnt. Ihre gut besuchte, helle Praxis hat Höhensonne, Diathermie und einen eigenen Röntgenapparat.
Nach der Machtübernahme 1933 verliert sie ihre Kassenzulassung. Die Umzüge in den nächsten Jahren bilden ihre sich verschlechternde Lage ab. Die Lebensgemeinschaft zieht 1935 in die Blücherstr. 6, 1. Stock, dort steht nur noch „ein kleines, düsteres Zimmer“ für die Praxis zur Verfügung. Aufgrund der NS-Verfolgungsmaßnahmen muss sie am 1. Oktober 1938 aus der Ärztekammer ausscheiden. Sie zieht um in den eher abgelegenen Stälinweg 22 auf der hinteren Gänsheide. Parallel lässt sich Frau Schröder in den Ruhestand versetzen, um dem Druck zu entgehen, als Beamtin nicht im gleichen Haushalt wie eine „Jüdin“ leben zu dürfen. 1940 Zwang zum Zusatznamen „Sara“. 1941 werden sog. „Juden“ auch im Adressbuch isoliert und nur noch in einem Sonderteil unter der Überschrift „Alphabetisches Verzeichnis der jüdischen Einwohner mit Angabe ihres Berufes und ihrer Wohnungen“ geführt. „Wolf M. Sara, Dr. med.“ wohnt jetzt in Degerloch, Felix-Dahn-Str. 73, 1. Stock, ihre Freundin Else Schröder in Bad Cannstatt, bei ihrem Bruder.
Was ist passiert?
Nach einem neuen Nazi-Gesetz müssen alle anderen Hausbewohner damit einverstanden sein, dass ein „Jude“ im gleichen Haus lebt. Eine der beiden Mitbewohnerparteien im Stälinweg hatte die Wohngemeinschaft gesprengt. Marga Wolf hat Schwierigkeiten, eine neue Wohnung zu finden und schreibt an einen Arztkollegen aus dem Ersten Weltkrieg. Dieser antwortet, brieflich: „Eine Jüdin mit dem Namen kenne ich nicht. Heil Hitler!“
Schließlich kommt sie in Degerloch unter, erst in der Felix-Dahn-Straße 73 I, dann mit Hilfe der Pfarrersfrau Inge Vorster im Degerlocher Königsträßle 42. Die dortige Vermieterin Marie Fels brachte sogar die Zustimmung ihres in Russland kämpfenden Mannes herbei. Wenn Frau Dr. Wolf zur Kirche geht, wird sie nun begleitet von Inge Vorsters Kindern, damit sie – gezwungen, den Judenstern sichtbar zu tragen – nicht von Nazis belästigt wird.
Elisabeth Müller schreibt 1960: „Mein verstorbener Mann war von 1942-50 Pfarrer der kleinen reformierten Gemeinde in Stuttgart. Wir wussten von der Not der Juden und versuchten in den Jahren der Naziherrschaft Lebensmittel und Unterkunft für „getauchte“ Juden zu beschaffen. Es waren zumeist Juden, die uns von Freunden aus den Kreisen der Bekennenden Kirche aus Berlin, aber auch von Münchener katholischen Kreisen geschickt waren. Es ergab sich dadurch die Situation, dass wir für die Stuttgarter Juden wenig tun konnten, da man sie in ihrer Heimatstadt kaum hätte schützen können. … Als wir Dr. Wolf kennenlernten, war ihr schon die Ausübung der Praxis verboten worden. Aber immer noch stand sie ganz unauffällig den Freunden und Bekannten, die zu ihr hielten, mit Rat und Tat zur Seite. Ihr war die Betreuung der Juden, die vom Sammellager auf dem Killesberg auf Abtransport warteten, übertragen worden. Die Erlebnisse dort gingen oft über ihre Kraft und haben sie vielleicht auch bewogen, unser Angebot, sie bei Bekannten „tauchen“ zu lassen, nicht anzunehmen. Sie glaubte, ihren Leidensgenossen in den Lagern als Ärztin Hilfe leisten zu können. Auch wollte sie die Menschen, die sich bereit gefunden hatten, sie aufzunehmen, nicht durch ihre Anwesenheit gefährden. Alle Schritte, die mein Mann noch unternahm, um die Existenz einer arischen Großmutter zu beweisen, kamen zu spät. …
Eine kl. Begebenheit, die zeigt, wie man in der Zeit versucht hat, den Juden auch die seelsorgerliche Hilfe zu nehmen, steht mir noch deutlich vor Augen. Eines Sonntags vor dem Gottesdienst kam mir die Mesnerin bleich entgegen und bat mich, Frl. Dr. Wolf abzufangen. Der Hausmeister habe erklärt, wenn das Judenweib in die Kirche käme, würde er es sofort der Stapo melden. … Frl. Dr. Wolf nahm nicht am Gottesdienst teil, und seither suchte mein Mann sie sonntags auf, um ihr einen kleinen Ersatz für den Gottesdienst zu schaffen.
Wir haben Frl. Dr. Wolf als eine unendlich tapfere, hilfsbereite Frau kennengelernt, die nie über ihr eigenes Schicksal eine Klage hat laut werden lassen.“
Albert Marx schreibt am 29. Juni 1961 an Bürgermeister Josef Hirn von der „Ärztin Dr. Marga Wolf, die der Aufforderung der Gestapo, einen Geisteskranken, der einen Transport „gestört“ hatte, umzubringen, nicht nachgekommen ist, später aber selbst in den Tod transportiert worden ist.“ Im Buch von Maria Zelzer: “Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden,” lese ich auf S. 228: „Mehrere Stuttgarter Mütter, deren Kinder sie behandelt hatte, waren so mutig und schreiben an höchste Stellen, man möge diese herzensgute Ärztin doch nicht den übrigen Juden gleichstellen. „Wenn das der Führer wüßte …“, heißt es naiv in diesen Bittschriften, der „Führer“ wolle doch so etwas bestimmt nicht.“ Direktor Hans Walz von der Firma Bosch versucht, sie als Ärztin für die Fremdarbeiterinnen bei Bosch anzufordern, was aber nicht gelingt. … „Zum Abtransport … habe sie sich ein ärztliches Besteck mitgenommen zur Betreuung ihrer Mitgefangenen, u.a. eine Zange, um Zähne ziehen zu können. – das ganze Besteck sei ihr zu ihrem Kummer gleich dort schon abgenommen worden.“ (Dora Pfeiffer)
„Ein letztes Grußwort von Dr. W. vor dem Abtransport v. Stuttgart, ohne Datum, im braunen Umschlag“ eingelegt in Ina Seidels Buch „Der Weg ohne Wahl“ gelangt aus dem Nachlass von Dr. phil. Walter Pfeiffer, Klavierfabrikant ins Stadtarchiv Stuttgart. Er hat den folgenden Wortlaut:
„Unser lieber Herr Dr. Pfeiffer,
ich weiß nicht, ob der „Weg ohne Wahl – ich geh‘ ihn jetzt! – in Ihre Hände kommen kann…. Darüber schreib ich nochmals kurz, zu danken, das zu tun ich nie aufhören werde. Ihnen und Ihrem Triumvirat hätte ich auch gerne meine Rettung verdankt. Ihnen hätte ich auch für alles Mühen und sorgen auch den Erfolg gegönnt und mir die Befreiung. Es scheint nicht sein zu sollen. So möchte ich Ihnen nochmals diesen Abschiedsgruss senden. Ich bleibe dankbar und mit stets guten Wünschen für Sie Ihre Marga Wolf.“
Marga Wolf wird am 17.6.1943 von Stuttgart mit der Bahn nach Theresienstadt transportiert, gemeinsam u.a. mit dem Rechtsanwalt Erich Dessauer aus der Uhlandstraße, der noch in Theresienstadt schwäbische Mithäftlinge einmal begrüßte mit „Hie gut Württemberg allewege“. Inge Vorster und Elisabeth Schröder begleiten sie noch zum Judensammelplatz im jüdischen Gemeindehaus in der Hospitalstraße.
Mrs. Ilse S. Wolff, Connecticut, langjährige Mitarbeiterin der jüdischen Nothilfe in Stuttgart, schreibt 1961: „Als sie …nach Theresienstadt kam, wurden ihr bei den dort üblichen Razzien die mitgenommenen Leber- und Eisenpraeparate, von denen sie für ihre pernizioese Anaemie, an der sie litt, abhaengig war, weggenommen. Als Aerztin wußte sie, dass dies ein Todesurteil bedeutet.“ Überlebende berichten, daß sie Mitgefangenen von ihren kleinen Lebensmittelrationen abgegeben hätte mit der Bemerkung, sie „brauche nicht so viel“. Inge Vorster schickt Pakete an Marga Wolf. Das letzte kommt zurück mit dem Vermerk „verstorben“.
Am 11. November war sie in Theresienstadt nach einem neunstündigen „Stehappell“ im eisigen Wind zusammengebrochen und hatte sich nicht mehr erholt. Marga Wolf stirbt, nach einem Zeitungsausschnitt, den Dr. Pfeiffer verwahrt hat, am 4.1.1944, 24 Uhr.
„Heute glaube ich, daß es drei Grade der Einweihung gibt:
um den Abgrund zu wissen – in den Abgrund hinunter zu müssen, freiwillig oder vom Schicksal gestoßen – und – ihn zu überwinden, den Abgrund. … Jetzt weiß ich es; es ist nun wohl dunkel genug. Aber ich weiß auch: Rettung gibt es, wenn wir, ohne umzusehen, hindurchfinden und – jenseits wieder hinauf.“
Ina Seidel: Der Weg ohne Wahl, S. 173
Recherche und Text: Klaus Steinke
Bilder: Stadtarchiv Stuttgart, SO 172