Das Wohngebäude und die Adresse existieren nicht mehr. Sie erreichen den Verlegeort von der Urbanstrasse kommend an der Passage der Musikhochschule Richtung „Haus der Geschichte“ (ca. 40 m bergab).
Nicolas Zymbalist (Cymbalist) * 01.03.1881, kam um den Jahreswechsel 1905/06 mit seiner Frau Leya geb. Heilbehrin (Kalperin oder Galperie) *15.05.1883, und ihren zwei Kleinkindern Karl/Carlos (Kalman) und Fanny (Feiga) aus Charkow (Charkiw)/s. Zt. Russland (heute Ukraine) nach Stuttgart; auch Großmutter Heilbehrin gehörte zur Familie.
Wir wissen nichts über ihr Leben in Charkow und ihre Beweggründe nach Westen auszuwandern. Nicolas war 24, Leya 22 Jahre alt, als sie nach Stuttgart kamen; sie teilen das Schicksal vieler jüdischer Menschen, die insbesondere aus dem früheren Galizien nach Deutschland kamen.
Es war die Zeit der Industrialisierung, die in der Stadterweiterung und der damit verbundenen starken Bautätigkeit in Stuttgart ihren Ausdruck fand.
Trotz Sprachschwierigkeiten fand Nicolas Zymbalist schnell Wohnung in der Werderstr. 36/p und als ausgebildeter Militär-Maßschneider bekam er sofort Arbeit beim Königlichen Hoflieferanten Gustav Gfröer in der Königstraße; zur Kundschaft gehörten vor allem Offiziere und Generäle.
Sohn Karl erinnert sich „…als 12-Järiger fehlte ich häufig in der Schule, weil ich Kleider an die Kundschaft austragen musste. (…). In der Werastr. 36 (?) hatten wir eine 6-Zi-Wohnung. Dort arbeitete Vater in Heimarbeit, um die 9-köpfige Familie zu ernähren. Es waren inzwischen drei Geschwister hinzugekommen und wir teilten mit Großmutter und einem Dienstmädchen die sechs Räume; Mutter half in der Schneiderei. (…). Dann wurde Vater von der Fa. Kostenbader & Fritz für besseren Lohn in die Garnisonsstadt Ludwigsburg abgeworben; wir wohnten am Bahnhof/Ecke Myliustrasse (…)“.
Wieder wechselte Nicolas Zymbalist den Arbeitgeber und war von 1921 bis 1936 bei Mohn & Speier, bei Uniform GmbH, Bamberger & Merz und daran anschließend bis Ende 1941 leistete er Heimarbeit für Firma A. Losberger, Uniform und Maßschneiderei, Stuttgart Königstr. 23.
Sohn Leonhard war inzwischen gelernter Kaufmann und hatte ab 1938 einen eigenen Hausstand im Stuttgarter Westen.
Mit den veränderten politischen Verhältnissen brachen schwere Zeiten für Ausländer und Juden an. Auf häufigen Wechsel der Arbeitsstelle musste die Familie auch mit Wohnungswechsel reagieren.
Dem Schneidermeister wurde von seinen beiden letzten Arbeitgebern die Mitarbeit „aus rassischen Gründern“ verweigert.
Von 1934 bis 1939 wohnte Familie Zymbalist in der Eugenstr. 6 im 2. OG; es war ihre letzte, frei gewählte Adresse.
Was in den 30er Jahren geschah, wissen wir aus Berichten über das Schicksal der jüdischen Menschen in Stuttgart; vor dem Krieg lebten hier 4876 Juden. –
Die Großmutter lebte nicht mehr und die Kinder konnten ins Ausland flüchten.
Frau Irene Schäfer aus Schweigheim kannte die Familie, kam regelmäßig auf den Stuttgarter Wochenmarkt und unterstützte Zymbalists nach ihren Möglichkeiten.
Ihre Tochter berichtet: „…Da den Juden der Kauf von Lebensmittel in den Geschäften verboten war, versteckte meine Mutter wöchentlich einen Korb mit Obst und Gemüse im Gebüsch des Alten Schlosses in Stuttgart, der von Zymalists abgeholt wurde.
Meine Mutter wurde jedoch beobachtet und daraufhin von der Gestapo verhört; sie gab an, dass es sich um restliche Waren handelt, die sie am Markttag nicht verkauft hat. Die Ware würde sie hier im Gebüsch deponieren bis zum nächsten Markttag und dann erneut versuchen sie zu verkaufen.
Nach einiger Zeit wurde der Korb von Zymbalists nicht mehr geleert, sondern stand unverändert im Gebüsch. Das war im Jahr 1941…!“
In der gleichen Zeit geschahen in der früheren Heimat der Zymbalists, ebenfalls fürchterliche Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung. In der Nähe der Hauptstadt Kiew, in der Weiberschlucht (Babin Jar), wurden um den 30.09.1941 33771 Juden erschossen.
Und in Stuttgart: Nicolas und Leya Zymbalist wurden von der Gestapo abgeholt und am 1.12.1941 mit über 1000 Menschen mosaischen Glaubens aus Württemberg vom Stuttgart-Nordbahnhof nach Riga deportiert; nach drei Tagen kamen sie im Lager Jungfernhof an. Ab dieser Zeit sind sie verschollen.
Es wird davon ausgegangen, dass das Ehepaar wegen ihres Alters als arbeitsunfähig eingestuft und bei der ersten Massenerschießung am 30. März 1942 im Wald von Bikernieki erschossen wurde; es fanden 1900 alte, kranke Mensche, darunter auch Kinder den Tod.
Nicolas Zymbalist wurde 61 und Leya Heilbehrin 59 Jahre alt.
Die Kinder:
Kalman (Karl/Carlos) Cymbalist *19.10.1903 Charkow (Charkiw) fand in Buenos Aire/Argentinien eine neue Heimat.
Feiga (Fanny) Cymbalist, *24.11.1904 Charkow (Charkiw), ist nach New York/USA geflüchtet.
Marie (Marig) Arm geb. Cymbalist, *09.5.1907 Stuttgart, kam nach Tucson/ Arizona/USA.
Leonard (Leonhard) Cymbalist, *15.10.1909 Stuttgart, gelangte ebenfalls nach USA und lebte in Philadelphia.
Kopell (Konstantin) Cymbalist *09.01.1914 Stuttgart, flüchtete nach Palästina, (später Israel) und wohnte in Tel Aviv.
Wann den Kindern die Ausreise und die Flucht aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten gelang, ist nicht bekannt. Überliefert ist, dass sie Ihre Eltern nach gelungener Flucht nachholen wollten; das war spätestens ab 01. September 1939 – mit Kriegsbeginn – nicht mehr möglich.
Recherche und Text: Initiative Stolpersteine Stuttgart-Mitte, Gebhard Klehr
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, ES 27681,
Stadtarchiv Stuttgart, Musikalische Begleitung Studentin Lucia Leker, Paris/Stuttgart
Mündliche Überlieferung durch Frau Gudrun Schäfer, Tochter der Zeugin Irene Schäfer aus Schwaikheim.
Spende und Paten: Frau Gudrun Schäfer, Öhningen-Schienen.
Anmerkung: die in vorstehender Kurzbiografie erwähnte Hilsbereitschaft von Irene Schäfer findet sich auch in Lettland. Nachfolgend soll auf einen Museumsbau hingewiesen werden, der jüngst zum Gedenken an das Ehepaar Zanis und Johanna Lipke erstellt wurde. Die Helfer haben selbslos und under akuter Gefährdung ihres Lebens deportierten Juden zur Flucht verholfen.
Museumsbau in Riga,
Auszugsweise Wiedergabe aus db Deutsche Bauzeitung 11.2013 (ISSN 0721-1902),
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Konradin Medien GmbH sowie den Verfassern von Planung, Text und Foto.
GEDENKSTÄTTE UND MUSEUM FÜR ZANIS LIPKE IN RIGA (LV).
Architektin: Zaiga Gaile, Text: Visvaldis Sarma, Fotos: Ansis Storks
Lipke-Museum Südseite > Während der deutschen Besatzung Lettlands im Zweiten Weltkrieg retteten einige mutige Menschen, darunter Zanis Lipke, in Riga etlichen Juden das Leben, indem sie sie versteckten und bei ihrer Flucht unterstützten. Seit Kurzem erinnert ein kleines, sehr einfühlsames Gebäude an diesen Akt der Menschlichkeit. Kipsala, eine kleine Insel in der Daugava gegenüber dem Rigaer Hafen, (…). Traditionelle Holzhäuser aus schwarz geteerten Schiffsplanken, Boote und Sandflächen bestimmten bis in die 70er Jahre das Bild der Gegend. Heute findet sich hier kaum noch Hafen- oder Seefahrerromantik. (…) Dennoch gibt es hier immer noch Orte, die von friedlicher Ruhe geprägt sind und einen die Gegenwart vergessen lassen. Ich hatte die Gelegenheit, die Zanis-Lipke-Gedenkstätte (…) zu besichtigen. Begleitet von trägem Hundegebell und den unbeteiligten Blicken der Nachbarn – die hier vermutlich das Erscheinen Fremder gewohnt sind – kam mein kurzer Spaziergang vor einem ortstypischen schwarzen Holzzaun mit dem aufgemalten Schriftzug »Zana Lipkes Memorials« zu seinem plötzlichen Ende. Versteckt zwischen ein paar noch existierenden unauffälligen Holzhäusern an der schmalen Straße im Zentrum von Kipsala gelegen, ist das Gebäude weit entfernt von dem, was man üblicherweise unter einer Gedenkstätte versteht.
Für einen gewöhnlichen Besucher ist es unmöglich, das vermeintliche Wohnhaus. (…) Dies ist aber auch gar nicht nötig, denn man erfährt viel mehr durch das, was man während des Besuchs spürt, hört oder sich vorstellt. Auch wenn man die äußere schwarze Form als bewussten Versuch lesen kann, ein umgedrehtes Fischerboot oder die Bundeslade zu versinnbildlichen, ist sie doch vielmehr eine dem Ort entlehnte, bergende Hülle für den vielschichtigen Schauplatz der Interaktion zwischen Besucher und Raum. »Die faktische Unauffälligkeit ist auch symbolisch zu verstehen, denn dieser Ort diente als Versteck«, steht in den Erläuterungen zur Gedenkstätte. Nur wenige Jahrzehnte ist es her, dass Menschen sich hier verborgen hielten und verborgen wurden. >
Der Menschlichkeit verpflichtet
Als »Gerechte unter den Völkern« (Ehrentitel für nichtjüdische Einzelpersonen, die im Dritten Reich ihr Leben einsetzten, um Juden vor der Ermordung zu retten) wurden Zanis Lipke und seine Frau Johanna 1966 von der Holocaust-Gedenkbehörde Yad Vashem anerkannt.
Das Ehepaar selbst ist bereits vor langer Zeit verstorben, doch das Grundstück gehört noch immer der Familie und die Gedenkstätte steht direkt neben ihrem Haus. Zanis und Johanna Lipke halfen während der Besetzung durch die Nationalsozialisten mehr als 50 Juden bei der Flucht, versteckten sie in einem Bunker unter der hölzernen Scheune im Hof und begleiteten sie durch das Landesinnere. Sie sammelten eine Gruppe Gleichgesinnter um sich, um die lebensrettenden Aktionen logistisch zu unterstützten und zu verschleiern, dabei jedoch nach außen hin ein normales Leben aufrechterhielten. Sie wurden nicht entdeckt und begingen keine Fehler. Es waren ungebildete, gewöhnliche Letten, die am Hafen anstrengenden Berufen nachgingen, nicht der Widerstandsbewegung angehörten und auch nicht versuchten, nach dem Krieg aus ihren Handlungen Profit zu schlagen. Sie taten nur, was sie als notwendig ansahen. So einfach war das. – Aus heutiger Sicht. – Das Sowjetsystem hielt zu nichtorganisierten individuellen Initiativen Distanz, was der Grund dafür sein mag, dass das Engagement der Lipkes nach dem Krieg nicht in das kollektive Gedenken einging – außerdem ließ sich das Heldentum der sowjetischen Armee viel eindrucksvoller für patriotische Propaganda nutzen als das einer Handvoll Einzelpersonen. Erst Jahre nachdem Lettland unabhängig geworden war, gründete sich die Vereinigung »Denkmal für Zanis Lipke«, sammelte Spenden und baute die Gedenkstätte, die von den Nachbarn und Freunden von Lipkes Schwiegertochter Arija in privater Initiative geführt wird. In unmittelbarer Umgebung lebt die Architektin Zaiga Gaile. Sie ist eine unersetzliche Akteurin in der Gemeinde Kipsala, sodass ihre Beteiligung an dem Projekt selbstverständlich war. Auch aufgrund der langjährigen Leidenschaft der Architektin für sensible Rekonstruktionen und die Erhaltung ortstypischer Holzbauten erscheint das geradezu zwingend.
Beklemmung und Hoffnung
Architektin Zaiga Gaile und Autor Visvaldis Sama.
Als ich den Eingang – mit traditioneller Teerfarbe geschwärzt wie die ganze Fassade – durchschritten hatte, fand ich mich in einem dunklen, engen, rechtwinklig abknickenden Gang mit unebenem Lehmboden wieder, der nur hier und da von natürlichem Licht (zumindest fühlt es sich so an), das auf Bodenhöhe durch die Wände aus rohen Holzbrettern, erhellt war. (…) , der dämmrige Rundgang führte um den inneren Kern herum, durch winzige, jedenfalls kaum beleuchtete leere Räume, begleitet von gelegentlichem, leisem Knarren der Dielen, Hahnenkrähen, Windstößen, Schritten und Gemurmel, das die reale Welt draußen und die Inszenierung in Innern sofort miteinander verschmelzen ließ. Mein eigensinniger Alleingang führte mich in die Irre, bereits nach ein paar Minuten verlor ich die Orientierung und fand mich in der Nähe des Eingangs wieder – das Gebäude verweigerte sich mir erst einmal.
Es schien als wolle es mir zu verstehen geben, dass ein derart unvorsichtiges Verhalten vor Jahren fatale Folgen gehabt hätte. (…) Die hölzerne Hülle der Scheune birgt drei Ebenen mit einem nach oben offenen Schacht im Zentrum, Gänge, Info- und Tagungsräume im EG sowie die Hauptabteilung im OG. Der Schacht enthält die zentrale Botschaft der Gedenkstätte. Er beginnt im UG als gleichseitiger Betonraum von 3 x 3 m ohne Zugang außer der Öffnung nach oben ins nächste Geschoss. Eine mögliche menschliche Gegenwart deuten nur neun Stockbetten und ein paar Decken an – kalt und schutzlos. Damit keine Missverständnisse entstehen: Dies ist nicht der exakte historische Ort des Verstecks, auch ist es keine Rekonstruktion archäologischer Überreste. Es ist eine allegorische Darstellung von Gefangensein, Dumpfheit, Bedrückung und Demütigung.
Durch die oberen Geschosse setzt sich der Hohlraum als leichte Konstruktion einer Sukka (Laubhütte) weiter fort. Sie erinnert an die temporären Schutzhütten, die dem jüdischen Volk nach seinem Auszug aus Ägypten jahrelang auf harten Wanderungen zwischen dem Roten Meer und dem Gelobten Land als Behausung dienten. Von außen mit Reststücken von Holzbrettern und von innen mit Pergament bekleidet, lediglich durch wenige Öffnungen einsehbar, regt der verbotene Raum die Vorstellungskraft an. Er ermöglicht es, die Vergangenheit aus einer Entfernung zu betrachten, in der sich Details nicht mehr klar unterscheiden lassen. Selbst die vermeintlich erahnten Gefühle zwischen Todesangst und Hoffnung der Menschen, die hier vor Jahrzehnten überlebten, verschwimmen. Nur die schwach erkennbare Zeichnung einer idyllischen Landschaft erinnert an die irgendwo vermutete Existenz des Gelobten Landes.
Die Ausstellung selbst folgt mit nummerierten Stationen dem Konzept eines Kreuzwegs, von denen jede einem bestimmten zentralen Aspekt der Geschichte gewidmet ist – beginnend am Eingang mit der knarrenden Türschwelle, durch geknickte Gänge, vorbei an der Sukka, weiter zum Raum unter dem Dach. Fotografien, Dokumente und einige Erinnerungsstücke befinden sich in hölzernen Boxen auf dem Boden, über die man sich tief hinabbeugen muss, um sie genauer betrachten zu können. Bei Annäherung reagiert jeder dieser Kästen mit einer eigenen Komposition aus Geräuschen und Licht. Ich beendete meinen Rundgang im Tagungsraum im EG, der, mit ein paar Bänken und einem schwarzen Klavier ausgestattet, von der raumhohen Verglasung einer Seite mit Blick auf den winzigen Hof bestimmt wird. Der Raum mit viel Tageslicht wirkte trotz des trüben Nachmittags geradezu erlösend. Integraler Teil der Gedenkstätte ist die Stimme von Johanna Lipke, die den Besucher leise begleitet, sodass man die Gegenwart eines Menschen in diesem Haus spürt. Während meines Besuchs wurde die Wiedergabe unterbrochen, und ich konnte die Räume ohne diese Gegenwart erforschen. An diesem Ort allein zu sein, ist eine Erfahrung, die man nicht beschreiben kann.
Ich war froh, als Architektin Zaiga Gaile schließlich zum vereinbarten Gespräch eintraf.