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Martha Häberle, Mittelstr. 4

Am Freitag, den 14. März 2008, wurde in der Mittelstraße 4 im Beisein ihrer Nichte und unter Beteiligung zahlreicher Nachbarn und von Mitgliedern der evangelischen Markusgemeinde ein Stolperstein zur Erinnerung an Martha Häberle, geb. Levi, gesetzt, deren Schicksal besonders tragisch war.

Die wahnwitzige Rassenideologie des Nationalsozialismus vernichtete nicht nur die jüdischen Deutschen, sondern zerstörte dabei auch das Leben von nicht-jüdischen Partnern.  Warum war es einem “Arier” plötzlich verboten, eine jüdische Frau zu lieben?  Die sogenannten Mischehen waren bis 1933 so normal, dass dies Außenstehenden oft gar nicht bewusst war.  Warum nur konnte dieses friedliche Zusammenleben nicht weiter bestehen bleiben?

Martha Haeberle-LeviMartha Häberle, geb. Levi, wurde am 10. Juli 1890 in Heilbronn geboren, der Geburtsstadt der Mutter Emma Levi geb. Stern. Diese hatte 1883 den Kaufmann Samuel genannt Otto Levi geheiratet, in dessen Geburtsort Kochendorf / Bad Friedrichshall. 
Martha wuchs seit ihrem 5. Lebensjahr mitten in Stuttgart auf, in der Gymnasiumstraße 28. Ihr Vater hatte die “Stuttgarter Liqueurfabrik” von seinem 1894 verstorbenen Bruder (oder Vetter) Max Levi übernommen. Doch schon 1898 – Martha war noch nicht acht Jahre alt – starb auch der Vater.  Die Kaufmanns-Witwe Emma Levi führte die Liqueurfabrik noch einige Jahre fort. 1906 – Martha war nun 16 Jahre alt – zog sie in die Mittelstraße im Stuttgarter Süden.  

Am 5. Mai 1920 heiratete Martha Levi in Stuttgart den Kaufmann Robert Otto Häberle, sie war israelitischer Religionszugehörigkeit, er evangelischer, bis 1933 eine normale Angelegenheit.  Zusammen mit dem Sohn Walter und Marthas Mutter wohnten sie nun in der Mittelstraße 4,  1. Stock, in dem um 1897 erbauten und bis heute stattlichen Gebäude. 

Die Nichte erinnert sich:  “Diese Tante war eine sehr humorvolle Frau und bei uns Nichten allseits beliebt.  Ganz besonders bei meinen älteren Cousinen, die in der Schweiz und in Mailand lebten und sich vor den Kriegsjahren hin und wieder auf mehrtägigen Besuchen gerne in der Mittelstraße aufhielten. 
Auch meine Mutter hatte ein vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis zu dieser neun Jahre älteren Schwägerin.  Ich erinnere mich an regelmäßige gemeinsame Treffen in Stuttgarter Gartencafés, was in der Vorkriegszeit ein beliebter Brauch gewesen ist, die Damen mit Handarbeiten und Gesprächen beschäftigt, ich Kind mit meinen Malstiften dazwischen.  Und Dank dem Humor der Tante wird noch heute mancher originelle Spruch in der Familie zitiert.
Ihr Mann Otto Häberle war ein Bruder meines Vaters. Die beiden führten eine gute Ehe.  Der Sohn Walter war schon in frühen Jahren nach Hamburg gezogen. An gelegentliche Besuche von ihm kann ich mich gut erinnern.  Meine Eltern standen zeitlebens mit ihm, seiner Frau und später auch seiner Tochter in Verbindung. Leider habe ich selbst keine Spur mehr von ihnen.
Marthas alte Mutter lebte mit ihnen zusammen in der Wohnung, und ich erinnere mich gut an die alte Dame, die wegen einer Parkinson-Erkrankung im Rollstuhl saß.”

Das Ende dieses harmonischen und sorglosen Lebens begann 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten.  Schon im März gab es erste Entlassungen jüdischer Mitarbeiter und am 1. April für alle sichtbar den Boykott jüdischer Geschäfte, das Dritte Reich war erst zwei Monate alt!  Wie hat Martha Häberle die immer mehr zunehmende Ausgrenzung durch Gesetze und Verordnungen, die Ablehnung durch Nachbarn, die tägliche Konfrontation mit der antijüdischen widerlichen Propaganda und Hetze z.B. schon beim Lesen der Zeitung erlebt?

Ab 1. September 1941 mussten die Juden “auf der linken Brustseite, etwa in Herzhöhe, jederzeit sichtbar und festgenäht”, das Kennzeichen, den Judenstern tragen.
Die Nichte schreibt: “Unvergessen ist mir auch ein Besuch, den ich wie einen Blitzschlag als Bedrohung empfunden habe.  Die Tante zeigte meiner Mutter und mir den gelben Judenstern aus Stoff, den sie der alten Mutter an den Mantel nähen sollte.  Vor dieser Demütigung wurde die alte Dame bewahrt, da sie sowieso das Haus nicht mehr verlassen konnte.  Ein baldiger Tod hat ihr viel erspart.  Bei mir aber war es vielleicht erstmals der Einbruch eines für mich nicht einschätzbaren Unheils in meine damals noch junge einigermaßen heile Welt.”  Emma Levi starb am 14. Januar 1942 kurz nach ihrem 81. Geburtstag; auch ihr hohes Alter hätte sie nicht vor der Deportation geschützt; ihr Grab ist wie auch das ihres Mannes Samuel Otto im israelitischen Teil des Pragfriedhofs.

Martha Häberle brauchte den Judenstern nicht zu tragen, da sie in sogenannter Privilegierter Mischehe lebte und zudem einen Sohn hatte, der – nach der Liste der Evangelischen Landeskirche über die in Mischehe lebenden Juden – nicht jüdisch erzogen – war.  Aber die Gefahr einer Deportation kam näher.  Im Januar und Herbst 1944 gab es erstmals Abtransporte von “Mischlingen” und Mischehepartnern, deren “arischer” Ehepartner gestorben war oder sich hatte scheiden lassen.

Am 12. Februar 1945 ging der letzte Transport nach Theresienstadt ab.  Auf Befehl der Geheimen Staatspolizei hatten sich etwa 57 Mischehepartner  zu einem “auswärtigen Arbeitseinsatz” einzufinden im Sammellager in Bietigheim. Befohlen war die Abmeldung der Lebensmittelkarten und die polizeiliche Abmeldung, Kinder unter 16 Jahren waren zu Verwandten in Pflege zu geben, Proviant für fünf Tage war mitzunehmen.
Es war offensichtlich, der Abschied sollte für immer sein.
Dieser Befehl erreichte Martha Häberle etwa zwei Wochen vorher.  Die Verzweiflung schlug über ihr zusammen.  Wusste sie doch auch, dass ein naher Verwandter, Rechtsanwalt in Frankfurt, aus der Emigration nach Südamerika aus Heimweh nach Deutschland zurückgekommen und in einem KZ gestorben war.  Mit einer Überdosis Veronal nahm sie sich das Leben.  Als ihr Mann nach Hause kam, wäre die Rettung im Marienhospital vielleicht noch möglich gewesen. – Aber er respektierte ihren Wunsch, so die Nichte, der Qualen und des Entsetzens gedenkend, das ihr erneut bevorgestanden hätte.”  Sie starb am 2. Februar 1945.

Pfarrer Rudolf Daur von der Markuskirche bestattete am 6. Februar sein Gemeindemitglied aus der Mittelstraße.  Zur Religionszugehörigkeit vermerkt das Standesamt: 1940 aus Israelitischer Kultusgemeinschaft ausgetreten; im Sterberegister des Dekanats Stuttgart steht:  früher isr., evang.
In einem Brief wendet sich Pfarrer Daur an Landesbischof Wurm.  Er schreibt von der großen Not, “dass auch die in Mischehe lebenden Juden noch weggebracht werden … Müssen wir schweigend mit ansehen, wie unsere Gemeindeglieder … ohne Recht und Barmherzigkeit, vor allem ohne jeglichen ernsthaften Grund dem Untergang ausgeliefert, wie christliche Ehen zerrissen und die Menschen zur Verzweiflung getrieben werden?  Ich fürchte, nicht wenige von ihnen werden lieber Hand an sich selbst legen … Eine Frau meiner Gemeinde, die das inzwischen bereits tat, habe ich übermorgen zu bestatten.”  Er meinte Martha Häberle. 

Der Tod seiner Frau traf Otto Häberle vernichtend.  In der Erinnerung der Nichte lebt dieses sein Leben verändernde Ereignis fort:  “Sein Besuch bei uns zu Hause unmittelbar danach ist mir unvergessen.  Er litt an diesem Erlebten und dem Verlust so sehr, dass auch er sechs Jahre nach der Tante Tod seinem Leben ein Ende bereitete.”

Die Sinnlosigkeit dieses Sterbens im Februar 1945 – nur wenige Wochen entfernt von der Befreiung – wird noch deutlicher, wenn man sich das Nachfolgende vergegenwärtigt.  Nicht alle hatten dem Befehl zum “Arbeitseinsatz” Folge geleistet, sondern waren untergetaucht und hatten überlebt.  Und: von den 57 Personen dieses letzten Transportes kamen (nur) zwei nicht zurück.
Am 18. Juni 1945 fuhren zwei Busse nach Theresienstadt, um die Überlebenden heim nach Stuttgart zu holen, Martha Häberle-Levi hätte dabei sein können.
 

2008 / Irma Glaub, Stuttgart-Süd