Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 06.10.2009:
Wieder Namen für die Namenlosen
Der Künstler Gunter Demnig und viele Bürger bewahren die NS-Opfer vor dem Vergessen
Von Thomas Borgmann
Schweigend im Kreis stehen die Mädchen und Jungen der zehnten Klasse des Mörike-Gymnasiums und blicken zu Boden. Dort kniet Gunter Demnig und verrichtet sein Handwerk. Zwei besondere Steine setzt er in den Gehweg vor dem Haus Tübinger Straße 111, nur wenige Meter vom Marienplatz entfernt. Sie gelten dem Ehepaar Max und Jaha Fischer. Beide stammten aus Korbielow, südlich von Krakau. Max Fischer war 1888 geboren, seine Frau ein Jahr später. 1912 waren sie nach Stuttgart gekommen – auf der Flucht vor den Pogromen und Verfolgungen gegen die polnischen Juden. 1942 verliert sich ihre Spur in Krakau. “1942 in Krakau erschossen”, heißt es in den erhaltenen Akten im Hauptstaatsarchiv. Doch die näheren Umstände sind unbekannt.
Wenn Gunter Demnig kommt, um “seine” Stolpersteine zu verlegen, wird es still. Der Kölner, der in den neunziger Jahren diese Aktion mit den kleinen Betonquadern und den goldenen Messingschildern erdacht und begonnen hat, spricht nicht – er hält auch keine Reden an die Umstehenden. 20 400 Stolpersteine hat er bereits gesetzt, rund 500 davon in Stuttgart. Die Steine sprechen für sich. Die Namenlosen aus der unvorstellbar großen Zahl der NS-Opfer bekommen plötzlich wieder ihre Namen: Jaha und Max Fischer. Ein bürgerliches Ehepaar, das sich eine Wohnung im “Kaiserbau” am Marienplatz leisten konnte. Er war Kaufmann, arbeitete als Schaufenstergestalter – ein Beruf, der damals noch selten war.
Viel weiß man nicht über Max und Jaha Fischer. Irma Glaub von der Stolperstein-Initiative Süd hat mühsam zusammengetragen, was sich in den Archiven von Stuttgart und Ludwigsburg finden ließ. “Wie das Ehepaar gelebt hat, wissen wir nicht”, sagt Irma Glaub. Von einem Sohn namens Hermann sei in den Akten die Rede; der habe in die USA fliehen können, sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber nicht mehr gemeldet. Anträge auf Wiedergutmachung habe es nicht gegeben.
Im Oktober 1938 begann die Ausweisung der polnischen Juden nach Polen. In Stuttgart wurden die Betroffenen sofort verhaftet und in das Polizeigefängnis an der Büchsenstraße gebracht, die berüchtigte “Büchsenschmiere”, von dort aus ging es weiter mit Zügen über die polnische Grenze. Siegfried Bassler, der frühere Pfarrer der Matthäuskirche und treffliche Chronist des Stuttgarter Südens, erklärt den Gymnasiasten: “Von tausend Stuttgarter Juden, die nach Riga deportiert worden sind, haben nur 26 das KZ überlebt.” Und er sagt: “Hier im Süden hat Gunter Demnig bis heute mehr als fünfzig Stolpersteine verlegt – unsere Forschungsarbeit geht weiter.” Vor dem Haus Hohenstaufenstraße 9 sind gestern drei für Manfred und Alice Straus sowie ihre Mutter Sophie Fellheimer hinzugekommen. Vor dem Gebäude Böblinger Straße 45 gibt es seit gestern zwei Steine für Jakob und Hilde Lederer.
Heute setzt Gunter Demnig seine Aktion fort. Um 9.30 Uhr wird vor dem Haus Peterstraße 24 in Rohr an den Bosch-Arbeiter Christian Elsässer erinnert. Er hatte im Jahr 1944 an seinem Arbeitsplatz das Nazi-Regime kritisiert, wurde denunziert, verhaftet und vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Am 28. August 1944 hat man ihn im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet. Um 11 Uhr geht es vor dem Gebäude Gähkopf 33 um Otto Hirsch. Er hat, bevor er selbst verhaftet und ermordet wurde, Zehntausenden von Juden zur Flucht verholfen. Otto Hirsch gehört als eines der wenigen NS-Opfer nicht zu den Namenlosen.