Drei Kriege lang hieß sie Champigny-Straße. So wurde auf Beschluss der Bauabteilung des Stuttgarter Gemeinderats vom 11. April 1871 eine der Querstraßen im Stadterweiterungsgebiet längs der Neckarstraße genannt – es war die Querstraße Nr.16 – bei deren „Aufsuchen vielfach Irrungen entstehen, die in der ungenügenden Bezeichnung der noch nicht eröffneten Straße ihren Grund haben“, weshalb es „zweckmäßig erscheine, diesen sämtlichen Straßen Benennungen zu geben.“
„Bei den hienach gemachten Vorschlägen wurden Namen hervorragender Männer und Ortsnamen, welche auf die neuesten Kriegsereignisse sich beziehen, auf die Straßen je nach ihrer Bedeutung übertragen.“ Die „neuesten Kriegsereignisse“, auf die der Gemeinderat anno dazumal so stolz war, das waren der deutsch-französische Krieg von 1870-71, der den Nachbarstraßen der heutigen Heinrich-Baumann-Straße die Namen Sedan und Metz bescherte.
„Champigny ist für die Württemberger, was Sedan für die Deutschen allesamt, Symbol des Sieges von 1870, der die Einigung Deutschlands gebracht hat.“ So begründet Stadtrat Heinzelmann von der DG/BHE (Deutsche Gemeinschaft/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) seinen Antrag auf Rückbenennung der Straße vom 29.1.1952. Champigny war eine Schlacht, in der sich die Württemberger gegen eine große Übermacht behauptet hatten, wodurch das Schicksal von Paris entschieden wurde.
Sechs Jahre zuvor, 1946, hatte der Gemeinderat die „Änderung der Straßennamen militaristischer und nationalsozialistischer Herkunft“ beschlossen. Elf Straßen bekamen neue Namen nach Opfern des Nationalsozialismus; neben der Champigny-Straße waren das unter anderem die Moltke-Straße, die Militär-Straße, die Kasernenstraße, die Windhukerstraße, die Blücherstraße und die Retraitestraße. Schon 1945 hatte Oberbürgermeister Klett verfügt, die Ludendorff- in Bolzstraße, die Schlageter- in Stauffenbergstraße, die Horst-Wessel- in Witzlebenstraße und die Gustloff- in Goerdelerstraße umzubenennen. „Es besteht der nicht unbegründete Verdacht“ – kommentiert die Stuttgarter Zeitung die Umbenennungen sechs Jahre später – „dass man vor allem Straßen ausgewählt hat, die irgendwie an Militärisches erinnern.“
1952 jedenfalls war die Erinnerung an Militärisches wieder gefragt – wir befinden uns mitten in der Debatte über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik -, und die Opfer des Nationalsozialismus wurden in gute und weniger gute eingeteilt. Die DG/BHE beantragte die Rückbenennung der Bebel- in Moltkestraße, der Ossietzky- in Blücherstraße („Nichts gegen den Friedensfreund Ossietzky, aber wer kennt schon diesen Namen?“) und der Heinrich-Baumann-Straße in Champigny-Straße. Stadtrat Hallmeyer von der DVP (der heutigen FDP) beantragte die Rückbenennung der Thälmann-Straße in Lange Straße, denn „die Geschäftsleute in der Thälmann-Straße … seien durch die Straßenumbenennung wirtschaftlich geschädigt worden.“ Eine Ehrung Thälmanns dürfe „niemals bei einer Geschäftsstraße der Fall sein.“
Voller Reue hält Stadtrat Hallmeyer in der Begründung seines Antrags Rückschau: „Man müsse es den Mitgliedern des Gemeinderats, die damals (1946) entschieden hätten, zubilligen, dass in einer turbulenten Zeit auch turbulente Beschlüsse gefasst werden. Man hätte aus den politischen Erfahrungen gewarnt sein sollen, etwas Derartiges zu tun.“ Die DVP „wünsche, dass die Straße umbenannt werde, weil die Dinge heute nicht mehr ertragen werden können und in Wirklichkeit anders geworden seien.“
Angenommen wurde nur der Antrag auf Rückbenennung der Thälmannstraße. Die war in den Zeiten des Kalten Krieges politisch machbar. Bei dem weitergehenden Antrag der DG/BHE warnte Bürgermeister Hirn (SPD) vor den möglichen „schweren außenpolitischen Schäden“, denn „ohne jeden Zweifel werde eine öffentliche Behandlung dieser Dinge Eingang in die internationale Presse finden“ und Oberbürgermeister Klett wies ergänzend daraufhin, dass man mit der Wiederherstellung der Champigny-Straße „keine Verständigung mit Frankreich“ mache.
So verdankt die Heinrich-Baumann-Straße die Erhaltung ihres Namens dem Wunsch, sich nicht politisch bei Frankreich unbeliebt zu machen, das sich zu dieser Zeit noch gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands sträubte.
1956 – im Jahr des Verbots der KPD – machte der Deutsche Kraftfahrzeugs-Überwachungsverein (DEKRA), der zu dieser Zeit in der Heinrich-Baumann-Straße ein Verwaltungsgebäude baute, einen letzten Vorstoß, den Namen zu ändern. „Wir bitten zu prüfen, ob der bisherige Namen Heinrich-Baumann-Straße noch opportun ist.“ „Moselstraße“ solle sie jetzt heißen, „da sich in nächster Nähe die Metz- und die Sedanstraße befinden.“ Auf einmal ist nur noch die Landschaft der Oberbegriff von Metz und Sedan. So wird Geschichte umgelogen. Wen wundert es da, dass es weitere 32 Jahre brauchte, bis sich die Stadtverwaltung auf Drängen eines Anwohners bereit fand an den Straßenschildern einen Hinweis auf die Person Heinrich Baumanns anzubringen.
Harald Stingele