Aufwachsen in einer großbürgerlich heilen Welt.
Antonie Hanauer wurde als Tochter von Heinrich und Emilie Haarburger, geb. Schwarz, am 14.10.1881 in Rottweil geboren. Ihr Großvater hatte dort 1861 ein Geschäft für Textilien eröffnet. Vielleicht war das Haus in der Hofbrücktorstr. 25 gleichzeitig das Wohnhaus der Familie und so das Elternhaus von Antonie und ihren beiden Geschwistern Ludwig und Bertha.
1892, Antonie war elf Jahre alt, zog Heinrich Haarburger mit seiner Familie nach Reutlingen; das Haus in Rottweil wurde 1893 verkauft. In Reutlingen hatte Heinrich Haarburgers Bruder Friedrich 1888 die „Kartonagenfirma Julius Votteler“ gekauft. Antonies Vater stieg als Kaufmann und Anteilseigner mit 49,8% in die Firma seines Bruders ein. Unter der Führung von dessen Sohn Karl wurde der Betrieb später durch die Herstellung von Kunstleder zu einem der wichtigsten Arbeitgeber in Reutlingen.
1905 heiratete Antonie Haarburger – 24 Jahre alt – den aus Karlsruhe stammenden Gymnasialprofessor Gerson Hanauer. Karlsruhe wird ihr neuer Wohnort, ihr einziges Kind, die Tochter Gertrud, wird dort 1906 geboren.
Antonies Eltern sind 1912 nach Stuttgart in die Hauptmannsreute 6 gezogen. Die geräumige 7-Zimmer-Wohnung in der „belle étage“ entsprach dem Standard vermögender Bürger. Es gab ein Musikzimmer mit einem Bechsteinflügel und ein Frühstückszimmer, es gab Ölgemälde, Perserteppiche, Silber und feines Porzellan.
Schwere Jahre – Krankheit und Tod
1913: Antonies Mann, Gerson Hanauer, starb. Man ahnt, wie schwierig dadurch ihre Lebensumstände geworden sein müssen. Schon wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes zog sie mit ihrer 7-jährigen Tochter nach Freiburg, wo ihre mit dem Bankdi-rektor Willy Wolff verheiratete Schwester Bertha lebte. Antonie war damals 32 Jahre alt.
1918: kurz vor Kriegsende fiel Antonies Bruder, der Unteroffizier Ludwig Haarburger. Seine Frau Marie blieb zunächst in Reutlingen, zog aber dann (1922) mit ihren beiden Töchtern vorübergehend zu den Schwiegereltern in die Hauptmannsreute, später (1924) in die Johannesstraße.
1923: ein weiterer Todesfall – Antonies Vater – trifft die Familie. Vielleicht, um ihrer Mutter zur Seite zu stehen, vielleicht auch, um für sich selbst und ihre Tochter ein vertrautes und gesichertes Zuhause zu finden, zog Antonie Hanauer mit ihrer Tochter Gertrud im Oktober 1927 zu ihrer Mutter nach Stuttgart. Jetzt lebten vier alleinstehende Frauen in der Hauptmannsreute 6 in einem Haushalt zusammen: Mutter Emilie Haarburger („Professorenwitwe“, 76 Jahre alt), Tochter Antonie Hanauer („Fabrikan-tenwitwe“, 47 Jahre alt) und Enkeltochter Gertrud (21 Jahre alt, inzwischen Dekora-teurin), sowie Katharina Weishaupt (52), die schon seit 1922 im Haushalt tätig war.
Entrechtung, Enteignung, Entwürdigung 1933-1941.
Antonie Hanauers Leben war bis dahin „nur“ durch ihr eigenes individuelles Schicksal geprägt gewesen. Nach 1933 wurde es fast ausschließlich durch die nationalsozialis-tische Politik bestimmt. Zahlreiche Verordnungen und Erlasse trafen unerbittlich und mit präziser Härte Leben und Alltag der jüdischen Mitbürger. Sie wurden entrechtet, enteignet, entwürdigt, ausgegrenzt und zuletzt ermordet.
Hart betroffen wurde die Familie Haarburger-Hanauer durch die „Arisierung“ jüdischer Firmen und Betriebe. Sie mussten an „arische“ Eigentümer verkauft werden. Waren Anfang 1937 noch rund 75% der Kunstlederfabrik „Julius Votteler Nachfolger GmbH“ im Besitz der Familie Haarburger bzw. Hanauer, so gingen diese Geschäftsanteile durch Zwangsverkauf im Dezember 1937 an die Lederfirma Roser in Stuttgart-Feuerbach über. Der Kaufpreis für die gesamte Firma entsprach nur etwa dem Wert des Warenlagers.
Auch privater Hausbesitz wurde „arisiert“. Das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ von 1939 galt für „Judenwohnungen“ in nichtjüdischem Besitz: jüdische Familien mussten in die Häuser jüdischer Eigentümer ziehen. 12 Jahre lang hatte Antonie
Hanauer in der Hauptmannsreute 6 gewohnt, nun wurde sie gezwungen, mit ihrer 87 Jahre alten Mutter in ein „Judenhaus“ zu ziehen, zunächst in eine 4-Zimmer-Wohnung in der Wernlinstraße 6, nahe dem Hölderlinplatz. Katharina Weishaupt ist mit umge-zogen. Antonies Tochter Gertrud hatte im Oktober 1940 in Stuttgart Robert Israel Lan-dauer geheiratet. Beide konnten noch im März 1941 über Wladiwostok und Japan nach San Francisco emigrieren.
Die Lebensbedingungen für Antonie Hanauer und ihre Mutter verschlechterten sich weiterhin. Seit April 1941 konnten sie wie alle Juden in Stuttgart Lebensmittel nur noch im „Judenladen“ in der Seestraße einkaufen – ohne öffentliche Verkehrsmittel benutzen zu dürfen. Im August 1941 wurden sie ein zweites Mal gezwungen, umzuziehen. Ihre neue Wohnung in der ebenfalls zu einem „Judenhaus“ erklärten Gustav-Siegle-Straße 9/I, nahe dem Kräherwald, bestand aus zwei Zimmern und einer unbeheizbaren Kammer. Auch dieses Mal hat Katharina Weishaupt die beiden Frauen noch begleitet..
Ab September 1941 hatten alle Juden „einen Judenstern sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes“ zu tragen.
Zu diesem Zeitpunkt war es nicht mehr möglich, zu emigrieren.
Mit Erlass der Geheimen Staatspolizei/Staatspolizeileitstelle Stuttgart (Sitz in der Dorotheenstraße 10, „Hotel Silber“) vom 18. November 1941 an alle Landräte und Polizeidirektoren von Württemberg und Hohenzollern, wurde in Stuttgart die Abschiebung jüdischer Mitbürger in das „Reichskommissariat Ostland“ vorbereitet und durch-geführt.
Deportation und Ermordung 1941 / 1942
Von Stuttgart aus erfolgten drei große Deportationen:
• am 1. Dezember 1941 nach Riga
• am 26. April 1942 nach Izbica
• am 22. August 1942 nach Theresienstadt.
Antonie Hanauer, nun 60 Jahre alt, war eine von 1.013 jüdischen Bürgern, die mit der ersten Deportation aus Stuttgart in den Tod getrieben wurden. Ihre Mutter hatte sie allein zurücklassen müssen. Sie, Emilie Haarburger, 89 Jahre alt, wurde drei Monate später in ein angebliches Altenheim im leerstehenden Schloss Dellmensingen ab-transportiert. Sie starb dort knapp drei Wochen später.
Antonie Hanauer musste sich In Stuttgart vor ihrem Abtransport in einem „Sammellager“ auf dem Killesberg in den Hallen der Reichsgartenschau von 1939 einfinden. Am 1. Dezember 1941 verließ der Zug den Nordbahnhof und traf am 4. Dezember in Riga ein. Wenige Tage zuvor waren dort 1.053 Berliner Juden unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet worden, weil das Lager für die Neuankömmlinge freigehalten werden sollte. Da bei Ankunft des Stuttgarter Zuges diese „Räumungsaktion“ des Rigaer Ghettos noch nicht abgeschlossen war, wurden die Deportierten zunächst in einem etwa 6 km entfernten verwahrlosten Gehöft, dem „Jungfernhof“, zusammengetrieben.
Die letzten Lebenstage von Antonie Hanauer nach Abfahrt des Zuges aus Stuttgart liegen im Dunkeln, die Spuren ihres Lebens verlieren sich im Abgrund der Geschichte. Hat sie die Fahrt nach Riga überstanden? Starb sie im Lager „Jungfernhof“ aufgrund von Kälte und Hunger? War sie unter den 1.600 – 1.700 Lagerinsassen, die am 26. März 1942 im Wald von Bikernieki erschossen wurden, als das Lager „Jungfernhof“ aufgelöst wurde? Nur 43 von den Ende 1941 aus Stuttgart deportierten 1.013 Menschen überlebten.
Als offizielles Todesdatum von Antonie Hanauer wurde von den Behörden das Kriegsende festgelegt: der 8.Mai 1945.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stadtarchiv Stuttgart, Stadtarchiv Reutlingen.
Die Deportationen aus Stuttgart „im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung“ sind ausführlich in einer Broschüre der Geschichtswerkstatt Stuttgart Nord dargestellt: „Der Killesberg unterm Haken-kreuz“, Stuttgart 2012. Die Beschreibung von Antonie Hanauers Deportation stützt sich auf diese Dokumentation.
Recherche &Text: Initiativkreis „Stolpersteine für Stuttgart-Nord“, Ute Ghosh.