In dem Jahr, in dem ich, Barbara Heuss-Czisch, geboren wurde, wäre meine Großtante Berta (Betty) Metzger 52 Jahre alt geworden. Ihren Geburtstag am 9. Juni erlebte sie nicht mehr. Sie wurde am 19. Februar 1941 nach Kielce (Polen) deportiert und dort ermordet. Ihre Eltern, unsere Urgroßeltern (ich habe vier Geschwister) wanderten 1880 von Lemberg, damals die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Galizien, nach Berlin aus. Zu dieser Zeit gab es eine große Auswanderungswelle aus Osteuropa. Juden flohen vor Pogromen und Armut. Viele zog es weiter nach Amerika. Ich habe mir oft gewünscht unsere Familie, das heißt unsere Urgroßeltern mit zwei noch in Lemberg geborenen Töchtern wären auch weiter gegangen. Aber sie haben Deutschland gewählt. In Berlin kamen zu den zwei Töchtern Rosa und Fanny, 1881 noch ein Sohn Arnold, mein Großvater und 1889 eine Tochter Berta, genannt Betty, dazu.
Aus den Kindern wurden eindrucksvolle, schöne, elegante und selbstbewusste Menschen. So erscheinen sie mir, wenn ich sie auf den Fotos betrachte, die sich als einziges Zeichen ihres Lebens im Nachlass unseres Großvaters befunden haben. Mit dem Großvater, der als einziger seiner Geburtsfamilie das Dritte Reich überlebte, haben wir nicht über seine Verwandten gesprochen. Das war eine Erfahrung, die wir mit vielen teilten. Sowohl auf der Seite der ehemaligen (!) Täter, als auch auf der Seite der Opfer konnte in den ersten Jahrzehnten nach dem Grauen nicht wirklich darüber gesprochen werden. Aber das Grauen war in uns, ist es bis heute. Wo sind diese Menschen? Wie konnte ein solcher Genozid geschehen?
Natürlich gibt es heute viele historisch wissenschaftliche Untersuchungen und für mich sind sie lebensnotwendig. Aber es bleibt ganz direkt die Frage nach dem Abgrund in der Familie. Er bleibt ein schwarzes Loch in unserem Leben. Alle drei Schwestern meines Großvaters sind ermordet worden. Seine Eltern waren Gott sei Dank schon vor dem Dritten Reich eines natürlichen Todes gestorben. Zwei der Schwestern sind vor dem Dritten Reich aus Deutschland ausgewandert. Die eine, Rosa mit ihrem Mann nach Tarnow in Polen. Es war nicht weit genug. Die Deutschen holten sie ein. Sie hatten drei Kinder. Den letzten Gruß, den ich noch finden kann, ist von Dawid. Auf der Rückseite seines Fotos steht: „Zum Andenken an meine Reife-Prüfung im Juni 1927 gewidmet dem l. Onkel und der l. Tante Metzger´s in Stuttgart”. Seine Schwester Erna schickte noch ein Jahr später ein Foto zur Erinnerung. Sie sind ermordet worden, wie die andere Schwester Fanny, die mit ihrem Mann vor 1933 nach Rumänien ging und dort zwei Töchter bekam: Alice und Edith. Von Tante Fanny habe ich noch eine Postkarte aus dem Jaht 1943. Sie zeugt von reiner Panik. Sie schreibt, dass sie in Angst sei, weil sie so lange nichts gehört habe und immer wieder „schreibt, schreibt”. „Dass wir von Betty und Adolf (Abraham) nichts erfahren können, kostet mich viele Tränen.” Als sie dies schrieb waren ihre Schwester und ihr Schwager für die wir hier die Stolpersteine legen schon tot, ermordet.
Berta war die jüngste Schwester meines Großvaters. Die Beiden hatten wohl ein besonders enges Verhältnis. Auf einem Foto, das sie als modisch schick gekleidete, versonnene junge Frau zeigt, schreibt sie auf der Rückseite „Als Zeichen, dass ich meinen geliebten Bruder nie vergessen werde. Betty” und vorn die Widmung: „Aus Liebe meinem geliebten Bruder Arnold.” Sie folgt ihm als er 1911 das „Schokoladenhaus Czisch” in Stuttgart in der Hauptstätterstr. 42 eröffnete, von Berlin dorthin. Schon etwas früher war die Mutter Rosa aus Berlin zu ihrem Sohn nach Stuttgart in die Hauptstätterstr. 132/3, zu dieser Zeit eine schöne Wohngegend zwischen Karlshöhe und Weinsteige, gezogen. Bettys Bruder Arnold, unser Großvater, baute damals eine Filialkette von Süßwarenläden in Nordwürttemberg auf. Sein Hauptgeschäft verlegte er 1919, nachdem er nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als deutscher Soldat teilgenommen hatte, aus der Gefangenschaft in Sibirien heimkam, nach Ulm, wo er von da an mit Frau und Sohn lebte. Am 27.8.1920 bekamen sie das Bürgerrecht der Stadt Ulm, nachdem sie am 6. Juli die Urkunde der Staatsangehörigkeit in Württemberg durch Einbürgerung erworben hatten, womit mein Großvater gleichzeitig Deutscher wurde. Meine Großmutter war deutsche Katholikin, so dass ihr Mann das Recht hatte mit 39 Jahren deutscher Staatsbürger zu werden.
Betty arbeitete bei ihrem Bruder im Laden. In Stuttgart hat sie ihren späteren Mann Adolf (Abraham) Metzger kennen gelernt. Auf einer Postkarte, die sie ihm von einer Reise schreibt, nennt sie ihn zärtlich Adolli und gesteht, wie sehr sie sich nach ihm sehnt und, dass sie weiß, dass es ihm auch so geht. Sie scheint selbstbewusst und spielerisch, humorvoll und ernst zu gewesen zu sein. Das schließe ich aus den Fotos und aus den paar Zeilen, die es von ihr gibt. Ich bin froh über diese Zeugnisse, weil aus dem Nichts doch Zeichen von einer mir vertrauten und anvertrauten Lebendigkeit aufscheinen. Besonders das Hochzeitsfoto, oder das was ich so nenne, zeigt mir unsere Verwandtschaft. Ich kann darin Züge meines Großvaters und Vaters und sogar meiner Geschwister und unserer Kinder erkennen. 1916 kommt ihr Sohn Willy zur Welt, da ist sein Vater als Soldat im Ersten Weltkrieg schon verwundet. Auf das Abschiedsfoto vom Lazarett schreibt Abraham: „Zur Erinnerung an die schweren Zeiten. Dezember 1916”
Bis 1933 wohnen Betty und Abraham mit Willy in der Hauptstätterstr. 132, insgesamt also 22 Jahre. Zuerst mit dem Bruder, dann mit der Mutter, die 1920 stirbt, die auf dem jüdischen Teil des Pragfriedhofs begraben ist. 1922 kommt Sohn Willy in die Schule. Da ist der Süßwarenladen meines Großvaters in Stuttgart schon geschlossen. Abraham Metzger ist Handelsvertreter. Was er vertrat ist uns nicht bekannt. Und ob Betty als Ehefrau zuhause war oder noch einem Beruf nachging wissen wir auch nicht. Nur die Fotos geben Auskunft. Da sieht man den großen Willi bei seiner Barmizwah im Januar 1929, dem Tag an dem der Jüngling als verantwortungsfähiges Mitglied in die jüdische Gemeinde aufgenommen wird.
Er wird 1933 mit einer jüdischen Jugendorganisation nach Palästina, dem heutigen Israel, gehen. Warum? Da die ganze Familie Czisch, auch Betty und Abraham Metzger, liberale Juden waren, d.h. nicht streng religiös, nehme ich an, dass Willy Metzger sich aus politischen Gründen dem Zionismus anschloss, der in Palästina eine Heimstätte für Juden errichten wollte. In Deutschland konnte er den Antisemitismus täglich wachsen spüren und sehen, zum Beispiel beim Boykott der SA gegen jüdische Läden schon vor 1933. Auch die Geschäfte meines Großvaters hatten darunter zu leiden und mussten sehr schnell nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 „arisiert” werden. Schon im März 1933 wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums erlassen. Danach waren Juden keine Deutschen mehr. Das galt auch für meinen Großvater, der durch die Heirat mit einer „arischen” Deutschen dennoch vor dem Schlimmsten bewahrt blieb, obwohl auch gegen ihn 1933/34 ein Ausbürgerungsverfahren angestrengt wurde. Schon im Jahr 1933 wurden Betty und Abraham nach Polen ausgewiesen, obwohl Berta in Berlin und Abraham in Stuttgart geboren waren und keinen Ort in Polen hatten, wohin sie hätten „zurückgehen” können. Bei der Ausbürgerung wurde ihnen ihr ganzer Besitz entzogen. Solange mein Großvater noch konnte (er wurde durch die Arisierung der Läden ja selbst enteignet) unterstützte er die Familie seiner Schwester. Von Polen aus gingen sie aus eigener Kraft nach Wien. Von dort aus schreibt Betty an meinen Vater 1937, nach dessen schweren Autounfall: „Werde recht bald gesund und bleibe von allem Bösen verschont”. Am 19. Februar 1941 werden Betty und ihr Mann vom Wiener Aspangbahnhof aus zusammen mit 1002 Männern, Frauen und Kindern nach Kielce, einer Stadt nördlich von Krakau, transportiert und dort ermordet.
Willy hatte die richtige Entscheidung getroffen. Er hat das Dritte Reich überlebt. Hat er seine Eltern noch einmal vor dem „Anschluss” Österreichs an das Reich 1938 besuchen können? Es ist sehr unwahrscheinlich. In den 50er Jahren kam er noch einmal nach Deutschland und hat mit unserer Mutter Kontakt aufgenommen. Danach haben wir auch seine Spur verloren. Unser Vater war da bereits tot. Er ist 1956 durch einen Autounfall ums Leben gekommen, nachdem für ihn alle Hoffnung auf den Neubeginn in Deutschland zerstört worden war. Er hatte immer daran geglaubt, dass nach dem Dritten Reich das richtige Deutschland wieder aufgebaut werden könnte, auf den Grundlagen der Demokratie, des Christentums und der Humanität. Er stellte sich sofort nach der Kapitulation zur Verfügung, wurde in dem unzerstörten Schwäbisch Gmünd Flüchtlingskommissar und versuchte den 20 000 Heimatvertriebenen, die er in Gmünd aufnehmen konnte, das Notwendigste zum Leben zu beschaffen.
Von 1946 bis 1948 war er Oberbürgermeister. Bei der Oberbürgermeisterwahl 1948 aber wählten die Gmünder nach einem brutalen Wahlkampf der noch einmal mit Zionstern und antijüdischen Parolen geführt wurde, wieder ihren alten Oberbürgermeister aus dem Dritten Reich. Für meinen Vater war das das Ende seines Glaubens an das „richtige” Deutschland. Er war der Neffe von Betty und Abraham Metzger. Die Spur ihres Sohnes versuchen wir mit Hilfe des Roten Kreuzes wieder zu finden. Warum erst jetzt? Das ist für mich eine Frage, die ich mir selbst noch nicht ganz beantwortet habe. Heute würde ich ihn gerne erzählen hören über seine Eltern und unsere anderen Verwandten. Über die Lebensgeschichte meines Großvaters, der das Dritte Reich überlebt hat dank der Ehe mit einer Christin, die sich trotz Aufforderung durch den Staat nicht von ihm scheiden ließ. Über ihre eigene Lebensgeschichte und die meines Vaters Franz Czisch hat meine Mutter Katharina Czisch geschrieben in: „Zeitzeugen berichten… Schwäbisch Gmünd. Erinnerungen an die Zeit von 1930-45” (Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd. Einhorn Verlag.)
Text und Recherche: Barbara Heuss-Czisch und Jennifer Lauxmann
Paten/ Spender: Geschwister Czisch,
vertreten durch Barbara Heuss-Czisch, Stuttgart und Wolfgang Czisch, München
Quellen:
Stadtarchiv Stuttgart
Hauptstaatsarchiv Stuttgart
Landesarchiv Ludwigsburg, Entschädigungsakten