Chaskel Schlüsselberg wurde am 27.11.1901 in Strzyżów (damals als Galizien Teil von Österreich-Ungarn, heute Polen) als siebtes von neun Kindern geboren; drei seiner Geschwister sollten Opfer des Holocausts werden, wie auch der Vater, zu Chaskels Geburt ein wohlhabender Textil- und Eierhändler. Chaskel half zunächst beim väterlichen Eierhandel; um 1920 ging er nach Deutschland. Nach einem kurzen Aufenthalt in Köln gelangte er nach Stuttgart, wo er in den Lumpenhandel seines Bruders Moses/Max in der Gutbrodstraße einstieg. Zwei weitere Brüder, Elias und Nathan ließen sich in Stuttgart-Bad Cannstatt nieder. Chaskel eröffnete schließlich einen eigenen Lumpenhandel in Zuffenhausen, mit gutem Einkommen.
1930 heiratet er in München Chana Rubin. Zunächst arbeitet er gemeinsam mit seinem Schwiegervater Benjamin Rubin als Handelsvertreter für Textilien. Später betreibt er einen Eierhandel in Ludwigsburg und in der Gutbrodstraße in Stuttgart. Seine Frau hat einen Eierstand am Feuerseeplatz. Bei der nationalsozialistischen Aktion „Kauft nicht bei Juden!“ im Frühjahr 33 muss sie erleben, wie ihr Eierstand umgeworfen und sie verbal erniedrigt wird, wie Chaskal in einem Dokument für die Wiedergutmachungsbehörde berichtet. Chaskel sieht sich gezwungen, seine beiden Eiergeschäfte zu schließen, und arbeitet nun in der Firma seines Bruders Nathan (Elias ist bereits 1934 emigriert), bis diese 1938 an einen neuen ‚arischen‘ Besitzer veräußert werden muss. Nathan wird mit seiner Familie nach Polen ausgewiesen; Anfang 1940 gelingt ihm jedoch die Ausreise in die USA.
Die Schlüsselbergs wohnen an verschiedenen Adressen in Stuttgart, ab 1935 in der Silberburgstraße, erst in der Nr. 84, ein Jahr später in der Nr. 88, zunächst im Erdgeschoss, später in der 2. Etage. Das alltägliche Leben ist da bereits von Repressionen geprägt. Ihren Sohn Heinrich können sie im November 1938 mit einem Kindertransport nach England schicken. Ab 1939 arbeitet Chaskel als Hilfsstanzer in der Süddeutschen Absatzfabrik in der Taubenstraße in Stuttgart-Süd.
Im Lauf des Jahres 1940 müssen Chaskel und Chana mit der kleinen Frida ihre Wohnung in der Silberburgstraße 88 verlassen und in ein sog. Judenhaus in der Rosenbergstraße ziehen sowie den gelben Stern tragen. Im April 1942 erhalten sie eine Aufforderung zur „Auswanderung in den Osten“. Chaskel wird jedoch von seinem Arbeitgeber zurückgeholt, der darauf verweist, dass seine Produktion „kriegswichtig“ sei: Schubabsätze für die Wehrmacht. Chaskel kommt in der jüdischen Gemeinde in der Hospitalstraße in einem Raum mit anderen jüdischen Bürgern unter. Im Dezember 1942 ist er erneut für einen Transport vorgesehen; er befindet sich bereits in der Halle auf dem Killesberg, als er auf Bewirken seines Arbeitgebers ein zweites Mal herausgewunken wird. Im Februar 43 folgt der dritte Transportbefehl, und jetzt ist keine Rettung mehr möglich. Chaskel wird am 1. März 43 nach Auschwitz deportiert; die Zugfahrt und die weiteren Etappen seines Martyriums beschreibt er eindringlich in mehreren Dokumenten, die sich im Staatsarchiv Ludwigsburg erhalten haben. In Auschwitz teilt man ihn bei der „Selektion“ zur Zwangsarbeit in den Buna-Werken in Monowitz ein.
Im Januar 1945 wird Chaskel auf einen Todesmarsch gezwungen, den viele der entkräfteten Männer nicht überleben. Zuletzt gelangt er per Zug nach Buchenwald, von dort nach Schönebeck an der Elbe, wo die Häftlinge helfen sollen, Panzersperren zu errichten. Die Befreiung durch russische Truppen erlebt er in Oranienburg.
Chana Schlüsselberg wurde am 16.8.1902 in Rzeszów/Polen geboren und lebte später mit ihren Eltern Priva (Paula) Rubin und Benjamin Rubin in München. Die Eltern emigrierten 1939 nach Italien, wurden jedoch deportiert und ermordet (Ort unbekannt); die drei Geschwister von Chana konnten sich retten und lebten später in den USA sowie in München. Chana wurde zusammen mit ihrer Tochter Frida am 26. April 1942 von Stuttgart nach Izbica deportiert und bald darauf, vor November 42, ermordet.
Chana und Chaskel Schlüsselberg hatten zwei Kinder: Heinrich und Frida.
Heinrich Schlüsselberg wurde am 8.11.1931 in Stuttgart geboren. Einen Tag nach seinem 7. Geburtstag erlebt er, der die jüdische Schule in der Hospitalstraße besucht, die Pogromnacht und sieht die brennen-den Trümmer der Synagoge. Kurz darauf, am 17. 11., bringt ihn seine Mutter zum Bahnhof, zu einem Kindertransport; Heinrich/Harry erinnert sich, dass sie ihm für die Fahrt eine Tafel Schokolade schenkt. In England kommt Heinrich in einer Pflegefamilie unter. Erst ab 1947 gibt es wieder Briefkontakt mit seinem Vater, aber als dieser ihn besuchen kommt, ist es ein trauriges, schwieriges Wiedersehen. Heinrich/Harry spricht kein Deutsch mehr und will nicht nach Deutschland zurückkehren. Demnächst feiert er in England seinen 93. Geburtstag.
Frida Schlüsselberg wurde am 17.7.1936 in Stuttgart geboren. Heinrich/Harry hat sie als ein niedliches Mädchen mit roten Haaren, wie die Mutter, in Erinnerung. Frida wurde mit ihrer Mutter am 26. April 1942 nach Izbica deportiert und ermordet.
Nach dem Krieg kehrt Chaskel Schlüsselberg erst per Fahrrad, dann per Fuß nach Stuttgart zurück. Er ist der einzige Überlebende des Transports vom 1. März 1943. Mit seinem Freund Josef Warscher, einem anderen Holocaust-Überlebenden aus Stuttgart, betätigt er sich in der wieder gegründeten Jüdischen Gemeinde und eröffnet 1946 einen Handel für Früchte, Gemüse, Eier in der Elisabethenstraße 5. Vergeblich bewirbt er sich um eine Lizenz für den Handel mit exotischen Früchten.
Mittlerweile hat er Ruchale Hoff kennengelernt, die in der Donaubastion in Ulm, einer Unterkunft für DP/Displaced Persons, lebt. Sie stammt aus Biłgoraj, Polen, und hat den Krieg zusammen mit ihrem Sohn Shamale/Seymour in Usbeskistan überlebt.1949 emigrieren sie in die USA, und Chaskel folgt ihnen im nächsten Jahr. Chaskel und Ruchale/Ruth heiraten, die gemeinsame Tochter Eleanor wird geboren. Der berufliche Neuanfang ist für Chaskel hart; er hat auch zunehmend mit gesundheitlichen Problemen, vor allem mit der Wiederkehr der erlittenen psychischen Traumata zu kämpfen. Am 8.12.1976 stirbt er in New York.
Am 30. Oktober 2024 wurden in der Silberburgstraße 88 Stolpersteine für Chaskel, Chana, Heinrich und Frida Schlüsselberg verlegt.
An der Stolpersteinverlegung nahmen Eleanor Reissa, Tochter von Chaskel Schlüsselberg, und Titus Wrightson, Sohn von Heinrich Schlüsselberg/Harry Wrightson, teil.
Eleanor Reissa hat über die Recherchen zu ihrer Familiengeschichte ein Buch veröffentlicht: „The Letters Project. A Daughter’s Journey“.
Recherche und Text: Eleanor Reissa, New York; Hilke Lorenz, Stuttgart; Susanne Stephan, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West.
Quellen: Die Entschädigungsakten für die Familie Schlüsselberg befinden sich im Staatsarchiv Ludwigsburg.