Die Familie Lindauer stammte aus Buttenhausen, dem Dorf auf der Schwäbischen Alb nahe Münsingen. Die drei Brüder Moritz, Karl und Max gründeten hier 1910 eine Zigarrenfabrik, ihr Vater Salomon Lindauer hatte 1861 die erste ortsfeste “Kramhandlung” im Dorf eröffnet. Die Unternehmerfamilie sorgte mit der Fabrik für Arbeit, betrieb die Gründung eines Krankenschwesternvereins und stiftete der evangelischen Kirche eine neue Turmuhr. Das Verhältnis zur christlichen Gemeinde hätte nicht besser sein können!
1919 ging Moritz Lindauer wie zuvor schon Max nach Stuttgart, Karl betrieb die Zigarrenfabrik in Buttenhausen weiter, war aber auch Teilhaber an der “Cigarettenfabrik Wallruth Compagnie” in Stuttgart, deren Kaufvertrag die drei Brüder am 9. Mai 1919 vor dem Amtsgericht unterschrieben. Fabrik- und Geschäftshaus befand sich in der Friedrichstraße 13, später in der Hauptstätter Straße 96.
Moritz Lindauer kaufte für sich das große vierstöckige Wohn- und Mietshaus Marienstraße 25, in dem er mit seiner Familie im 1. Stock wohnte: seine Frau Elisabeth, geb. Moritz stammte aus Ingenheim bei Bergzabern; Sohn Walter und Tochter Hilde waren 1912 und 1914 in Buttenhausen geboren, 1922 kam Tochter Lore in Stuttgart dazu.
1928 wurde die Wallruth-Cigarettenfabrik aufgelöst, ebenso die Zigarrenfabrik in Buttenhausen, die Konkurrenz war zu groß geworden.
Nun widmete sich die Firma Salomon Lindauer der Aufstellung von Wiege-Waagen, befasste sich mit Grundstückshandel und besaß Mietshäuser, wie die Hauptstätter Straße 92 und 96.
Nach dem Beginn der NS-Herrschaft unterstützte Moritz Lindauer die zahlreiche minderbegüterte Verwandtschaft, von der allmählich immer mehr Menschen aus ihren Stellungen gedrängt wurden. Er schloss Ver-träge über Rentenzahlungen und Altersheimeinkäufe für Verwandte ab.
Max und Karl wanderten mit ihren Familien rechtzeitig 1938/39 in die USA aus; Karl nahm auf seinem Umweg über England die aus dem Schutt der Buttenhausener Synagoge geborgene Sabbatlampe mit.
Seit 2007 hängt sie nun in der Jewish Chapel der US-Marineakademie Annapolis (Maryland), wo der Sohn Harry Lindauer (2006 verstorben) und seine Frau Thea eine neue Heimat gefunden haben.
Moritz und seine Frau entschieden sich zu spät zur Auswanderung. Als Weltkriegsveteran ausgezeichnet und kriegsbeschädigt, fühlte er sich in seinem Vaterland Deutschland sicher. Seinen drei Kindern ermöglichte er die Ausreise nach Amerika, bevor sein Geld geschwunden war: durch die nach dem 9. November 1938 als “Sühneabgabe” deklarierte Judenvermögensabgabe, Sperrkonten und Zwangsverkäufe unter Wert.
Ende 1939 musste dann auch Moritz Lindauer einsehen, dass sein Vaterland Deutschland neben seinem Besitz auch nach seinem Leben trachtete. Das Ehepaar beschloss die Auswanderung. Sohn Walter in Amerika hatte schon das kubanische Ausreisevisum bezahlt. Ein Teil der Haushaltseinrichtung der 7-Zimmer-Wohnung Marienstraße 25 wurde in zwei Lifts (große Umzugskisten) zur Einschiffung in Genua und Rotterdam verpackt, sie wurden aber schon vorher beschlagnahmt.
Die Lifts waren unter Überwachung gepackt worden, auf 16 Seiten findet sich eine Auflistung der Inhalte: Servietten, Tischdecken, Kleiderbügel, Hosen, Röcke usw. bis hin zum Gurkenhobel und Waschseil mussten nach Anzahl aufgeführt werden. Es gleicht einem verzweifelten Aufbäumen gegen den Unrechtsstaat der Nazis, wenn Moritz Lindauer im Begleitbrief vom 15. Oktober 1939 schreibt:
“Zu meinem Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut bemerke ich: Mein Haus Marienstraße 25 ist an die Landesbauernschaft (Reichsnährstand) verkauft und muss solches nebst meiner darin befindlichen Wohnung bis spätestens 2.1.1940 geräumt werden. Ein anderer, jedoch ganz beschränkter Wohnraum im Hinterhaus ist mir vom Württemberg. Wirtschaftsminister abgelehnt worden. Ferner erwähne ich noch, dass ich Frontkämpfer bin, stand von 1916 bis Schluss 1918 im Felde, bin kriegsbeschädigt und erhielt eine Kriegsauszeichnung. Ich habe infolge meiner damaligen günstigen wirtschaftlichen Lage auf jede … Rente hieraus verzichtet…Über meine Briefmarkensammlung, begonnen 1885 und bis heute weitergeführt, füge ich Schätzungsurkunde im Original vom 25.8.39 in Höhe von 3500 RM der Firma … bei. Ich bemerke, dass ich Mitglied des Philatelistenvereins Stuttgart von 1919 bis 1937 war.”
Ende 1939 ziehen Moritz und Elsa Lindauer in die Gustav-Siegle-Straße 5, es ist das Haus einer jüdischen Witwe, in dem jetzt nur Juden leben, alle zwangseingewiesen, ein ?Judenhaus?. Bezeichnend für die noble und korrekte Art der Lindauers ist eine Schenkungsurkunde vom 26.11.1940, ausgestellt vor einem Stuttgarter Notar: Alle Möbel aus der Gustav-Siegle-Straße 5 gehören der Hausgehilfin Frl. Marie Kolb, … .
Ende 1940 werden Lindauers nach Buttenhausen zwangsumgesiedelt, wo sie eine 2-Zimmer-Wohnung beziehen, sehr bescheiden möbliert.
Hier machen sie einen letzten verzweifelten Versuch, sich gegen das Unrecht aufzulehnen. Wenigstens die Grundstücke in Stuttgart und Buttenhausen sollen nicht dem NS-Staat zufallen. Am 11. Juni 1942 errichten die Eheleute Lindauer vor dem Amtsgericht Münsingen ein Testament zugunsten ihres angeheirateten “arischen” Neffen Dr. Ing. Hugo Schrade, Direktor bei Zeiss in Jena. Die Ehefrau von Hugo Schrade, Erna, ist die Tochter einer Schwester von Moritz Lindauer.
In der praktischen Enteignung der leiblichen Kinder liegt eine große Tragik. Im Wiedergutmachungs-Verfahren 1952 ficht der ehemalige Wirtschafts- und Steuerberater der Firma Lindauer das Testament an: “Mit dem Testament beim Nachlassgericht in Münsingen zugunsten ihres arischen Neffen Dr. Schrade war eine Benachteiligung ihrer leiblichen Erben nicht gewollt von den Eltern. Dazu war, wie ich aus eigener jahrzehntelanger Kenntnis der familiären Verhältnisse weiß, kein Grund vorhanden.”
Man einigt sich, der Neffe aus Jena bezahlt eine große Summe als Abfindung an die drei Kinder in Amerika. Dafür nimmt Dr. Schrade eine Hypothek auf das Haus Marienstraße 25 auf, das bis in die 70er Jahre noch stand und als Wohn- und Bürogebäude genutzt wurde.
Erna Schrade, 1944 trotz arischem Ehemann noch nach Theresienstadt verschleppt, war oft im Haus ihres Onkels in der Marienstraße zu Besuch. Sie erzählt liebevoll von ihrem Onkel, der als geborener Sammler mit pedantischer Genauigkeit seine Briefmarken- und Münz-Sammlung vermehrte und von ihrer eleganten, modebewussten Tante. Sie hatten die Nichte gebeten, nach Buttenhausen zu kommen, als sie das Testament zugunsten ihres Mannes machten. Sie schreibt später: “Mein Onkel und meine Tante hatten bis etwa sechs Wochen vor ihrem Tod immer noch die Hoffnung, nach Amerika auswandern zu können. Sie zeigten mir auch das Reisegepäck. Sie erklärten mir damals, dass sie im Falle ihrer Deportation … Selbstmord begehen würden.”
Diesen Weg gingen Moritz und Elsa Lindauer bis zum bitteren Ende.
Am 14. August 1942, eine Woche vor der auf 22.8.1942 terminierten Deportation von fast 1100 Menschen nach Theresienstadt, teilte die Stuttgarter Gestapo den Landräten mit, dass die “auf beiliegender Liste namhaft gemachten Juden” am 19.8.1942 in Stuttgart einzutreffen hätten. Auf der Liste standen auch die Namen des Ehepaares Lindauer.
Am 16. August 1942 schrieb Elsa Lindauer einen Abschiedsbrief für ihre Kinder. Dann nahmen sie gemeinsam die Tabletten.
Moritz Lindauer starb in Buttenhausen am 17.8.1942, seine Frau Elisabeth musste einen Tag länger aushalten, sie starb am 18.8.1942.
2009 / Irma Glaub, Stuttgart-Süd