Emilie Haarburger, geb. Schwarz, wurde am 27. Mai 1852 in Hechingen geboren. Ihr langes Leben spielte sich zwischen Hechingen, Rottweil, Reutlingen und Stuttgart ab. Sie starb am 26. März 1942 vom Rassenhass der Nationalsozialisten verfolgt in Dellmensingen.
Lebensstationen 1852 – 1912
Aufgewachsen in Hechingen, heiratete Emilie Schwarz im Mai 1877, zwei Wochen vor ihrem 25. Geburtstag, in Rottweil den ein Jahr älteren Kaufmann Heinrich Haarburger, der dort in das elterliche Textilgeschäft eingetreten war. Beide stammten aus jüdischen Familien.
In Rottweil hat Emilie Haarburger drei Kinder zur Welt gebracht: Ludwig (1879), Antonie (1881) und Bertha (1883). Die 15 Jahre in Rottweil waren, so sieht es aus, für sie und ihre junge Familie eine glückliche Zeit.
1892 zog Heinrich Haarburger mit seiner Familie nach Reutlingen. Dort hatte sein Bruder Friedrich vier Jahre zuvor die Kartonagenfirma „Julius Votteler“ gekauft und sie um- und ausgebaut zur Herstellung von Papier- und Gewebebeschichtungen und später vor allem von Kunstleder. Heinrich Haarburger wurde Partner seines Bruders
als Kaufmann und Anteilseigner der Firma.
Auch die beiden Jahrzehnte in Reutlingen müssen für Emilie Haarburger eine gute Zeit gewesen sein: ihr Mann wirtschaftlich außerordentlich erfolgreich, die Familie wohlhabend und gesellschaftlich respektiert. Ihre drei Kinder wurden erwachsen und gründeten eigene Familien: in Karlsruhe wurde 1906 ihr erste Enkelkind, Gertrud
Hanauer, geboren; in Freiburg 1907 Margot und 1911 Hans Wolff; in Reutlingen 1912 Elsbeth Haarburger. Es lässt sich leicht vorstellen, welches Glück die große Familie für Emilie und Heinrich Haarburger bedeutet hat.
Altersjahre in Stuttgart 1912 – 1942.
Ihr Alter wollten Emilie und Heinrich Haarburger in der wirtschaftlich kräftig prosperierenden schwäbischen Residenzstadt Stuttgart verbringen. Im Jahr 1912 bezogen sie in einem gerade erst fertig gestellten prachtvollen viergeschossigen Wohnhaus in der Hauptmannsreute 6 eine großbürgerliche, ihrem Lebensstandard entsprechende sieben-Zimmer-Wohnung. Im Jahr darauf starb in Karlsruhe – früh und vermutlich unerwartet – Gerson Hanauer, der Mann ihrer älteren Tochter Antonie. Sie zog nach Freiburg, den Wohnort ihrer Schwester Bertha, die mit dem Bankdirektor Willy Wolff verheiratet war.
Kurz vor Ende des 1. Weltkriegs wurden Emilie und Heinrich Haarburger durch eine weitere Schreckensnachricht erschüttert: ihr Sohn Ludwig, Unteroffizier in einem Infanterieregiment, war am 8. Oktober 1918 – zehn Tage vor seinem 39. Geburtstag und einen Monat vor der deutschen Kapitulation – in Nordfrankreich gefallen. Drei Monate später brachte seine Frau Marie in Reutlingen die zweite Tochter, Doris, zur Welt.
Ludwig Haarburger fand seine letzte Ruhestätte in Maissemy/Département Aisne, wo die französischen
Militärbehörden 1924 einen deutschen Soldatenfriedhof mit über 30.000 Gräbern angelegt hatten. Ob Emilie Haarburger davon erfahren und die Kraft und Möglichkeit gefunden hat, dort das Grab Nr. 789 im Block 1 zu besuchen?
Die Schicksalsschläge nahmen kein Ende: im Juli 1923 verlor Emilie Haarburger ihren Mann. Er starb, 70-jährig, im Luftkurort Heiligenberg hoch über dem Bodensee.
Und 1928 starb ihre jüngere Tochter Bertha in Freiburg. So hatte Emilie Haarburger innerhalb weniger Jahre ihren Mann, zwei Kinder und einen Schwiegersohn durch den Tod verloren.
Es wurde noch einsamer um sie, als der politische Umbruch von 1933 vier ihrer fünf Enkelkinder zur Flucht aus Deutschland zwang; denn als die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten sogleich nach deren „Machtergreifung“ einsetzte und dabei die Juden schrittweise und gezielt zu Bürgern zweiter Klasse gemacht wurden, entschlossen sich die Enkel im Herbst 1934 zu emigrieren: Hans nach England, Margot in die Niederlande, Elsbeth und Doris nach Palästina. Geblieben waren ihr jetzt nur ihre Tochter Antonie und deren Tochter Gertrud. Beide zogen im Oktober 1927 zu ihr in die Hauptmannsreute, wo inzwischen auch ihre Haushaltshilfe, die gelernte Köchin Katharina Weishaupt, mit in ihrer Wohnung lebte. 1933 war Emilie Haarburger 81 Jahre alt. Was sie wohl aus eigenem Erleben erfahren hat, wie die Juden auch in Stuttgart ausgegrenzt, entrechtet, ihrer Würde beraubt
und finanziell ausgeplündert wurden? In jedem Fall hat sie unmittelbar miterlebt, wie sie und ihre Familie um ihr Vermögen gebracht wurden: durch die „Arisierung“ der Reutlinger Firma, durch Zwangsabgaben wie die „Reichfluchtsteuer“ bei der Auswanderung ihrer Enkel, durch die als „Sühneleistung“ deklarierte „Judenvermögensabgabe“, durch die Ablieferung sämtlicher Wertgegenstände aus Silber, Gold und Platin, von allem Schmuck, von wertvollen Uhren.
Ab 1939 war sie dem Zugriff des NS-Regimes schutzlos ausgeliefert: wie alle Juden, die im Haus eines „arischen“ Eigentümers wohnten, wurde sie gezwungen, in ein sog. „Judenhaus“ mit einem jüdischen Eigentümer umzuziehen. In „Judenhäusern“ mussten die zwangseingewiesenen jüdischen Bewohner in drangvoller Enge leben.
Durch diese Form der Ghettoisierung, die eine Zwischenstation auf dem Weg zur Deportation war, wurden in Stuttgart bis Anfang 1942 etwa 600 Wohnungen zur Unterbringung „arischer“ Bürger frei geräumt.
Emilie Haarburger wurde Ende 1939 zusammen mit ihrer Tochter Antonie und ihrer Enkelin Gertrud in das „Judenhaus“ Wernlinstr. 6 eingewiesen. Katharina Weishaupt ist ihr dorthin und im August 1941auch noch bei einem weiteren Umzug, jetzt in das „Judenhaus“ Gustav-Siegle-Str. 9/I, freiwillig gefolgt. Gertrud Hanauer hatte im Oktober 1940 geheiratet, war mit ihrem ebenfalls jüdischen Mann Robert Landauer in eine Pension gezogen und im März 1941 gemeinsam mit ihm in die USA ausgewandert.
In der Gustav-Siegle-Straße lebten Emilie Haarburger, jetzt 89 Jahre alt, Antonie Hanauer (60) und Katharina Weishaupt (66) in zwei Zimmern und einer winzigen Kammer zusammen. Von hier aus musste sich Antonie in den letzten Novembertagen 1941 in einem „Sammellager“ auf dem Killesberg einfinden. Sie war – ebenso wie 1.012 weitere Juden aus Württemberg und Hohenzollern – „zu einem Evakuierungstransport nach dem Osten eingeteilt“ worden. Dieser „Transport“ ging am 1. Dezember vom Stuttgarter Nordbahnhof aus in das Vernichtungslager „Jungfernhof“ bei Riga. Antonie Hanauer wurde in den Tod getrieben, ermordet. Ob ihre Mutter das geahnt, gefürchtet, vorhergewusst hat?
Tod in Dellmensingen 1942
Im Zuge der Wohnraumgewinnung wurden seit 1941 insbesondere alte und gebrechliche jüdische Bürger in Orte mit einem ehemals hohen Judenanteil „evakuiert“ oder auch in kurzfristig errichtete Altersheime „verbracht“.
Drei Monate nach der Deportation ihrer Tochter, am 9. März 1942, wurde Emilie Haarburger in ein solches Zwangsaltersheim – in Dellmensingen, ca. 10km südlich von Ulm – eingewiesen. Für ihre Mitbewohnerin Katharina Weishaupt, deren Name in keinem Stuttgarter Adressbuch verzeichnet ist, findet sich nur noch in einem
Notariatsschreiben an sie eine Anschrift aus dem Mai 1942: „Stuttgart, Boschkrankenhaus“.
In Dellmensingen gab es ein dreigeschossiges Schlossgebäude aus dem 16. Jahrhundert. Es stand seit 1940 leer, war verfallen und renovierungsbedürftig. Anfang 1942 wurde es von der Gemeinde notdürftig instand gesetzt. Im März und April kamen die meisten der am Ende 127 sehr alten und vielfach sehr kranken jüdischen
Menschen mit ein paar Möbelstücken und wenig persönlichem Gepäck dort an. Es hieß in späteren Jahren, die Dellmensinger hätten geglaubt, dass die Juden im Schloss andernorts „ausgebombt“ oder auch „auf Urlaub“ gekommen seien.
Die 127 „Evakuierten“ lebten, in nur 15 Räumen zusammengepfercht, unter elenden hygienischen Verhältnissen und wurden nur höchst kümmerlich verpflegt und medizinisch kaum versorgt. 17 von ihnen sind noch in Dellmensingen gestorben. Sie wurden auf den jüdischen Friedhöfen in Laupheim und Ulm beerdigt. Die übrigen
wurden, wie der Gendarmerieposten vermeldete, „am Mittwoch, 19. August 1942, nach Stuttgart verschubt und dort der Geheimen Staatspolizei übergeben.“
Auch Emilie Haarburger ist, 89 Jahre alt, in Dellmensingen gestorben: 17 Tage nach ihrer Unterbringung dort, am 26. März 1942. Auf ihr Grab in Laupheim wurde nach dem Krieg ein Grabstein gesetzt.
Nachsatz:
Dellmensingen ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie schwer es uns nach 1945 gefallen ist – und vielerorts auch heute noch fällt –, sich den Gräueln der NS-Zeit offen zu stellen. Dort hatte der Ortsbeirat Ende der 1980er Jahre beschlossen, mit einer Gedenktafel an das Schicksal der 127 jüdischen Opfer zu erinnern. Der Beschluss wurde 1991, ein Jahr vor dem festlich geplanten 900-jährigen Ortsjubiläum, gekippt. Stattdessen, so der neue Beschluss, sollte das Altersheim auf einer Tafel erwähnt werden, die die gesamte Geschichte des Schlosses stichwortartig aufführen sollte. Selbst diese Tafel gibt es auch heute noch nicht.
Recherche und Text: Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord, Dr. Wolfgang Harder.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stadtarchiv Stuttgart, Ortsverwaltung Dellmensingen.