Von Durchhaltefanatikern kurz vor Kriegsende in einem Steinbruch bei Neuffen erschossen. Er hatte den Krieg satt.
Der am 18.11.1910 in Zuffenhausen geborene Maschineneinsteller Eugen Spilger wohnte mit seiner Familie bis zu seiner Ermordung in der Colmarer Straße 19 . Er war mit der Verlagerung seiner Firma, der kriegswichtigen Kugellagerfabrik Norma nach Neckartenzlingen geschickt worden, nachdem die Zentren der Rüstungsindustrie seit Herbst 1943 besonders heftigen Angriffen durch die alliierten Bomber ausgesetzt waren. Seine Frau Elise und sein vierjähriger Sohn Eugen waren in den Schwarzwaldort Simmersfeld evakuiert worden, wo er sie noch Anfang April 1945 besucht hatte.
Laut Polizeiprotokoll des 14. Polizeireviers Stuttgart-Zuffenhausen vom 29.11.45 forderte der bis dahin nicht als Gegner der NS-Diktatur aufgefallene “ganz normale Bürger” seinen Kollegen, der wie er dem Volkssturm angehörte, am 17.4.45 auf, Neckartenzlingen zu verlassen und zu ihren Frauen zu gehen. Nach der Weigerung dieses Kollegen machte sich Spilger allein mit dem Fahrrad auf den Weg zu seiner Familie. Unterwegs wurde er jedoch vor französischen Panzern gewarnt und von Tieffliegern angegriffen und kehrte nach Neckartenzlingen zurück. Dort äußerte er im Gasthaus “Rößle” gegenüber Volkssturmmännern, dass der Krieg verloren und es um jedes Opfer schade sei. Die Äußerungen Spilgers lösten unter den Volkssturmmännern in ihrem Quartier große Aufregung aus und kamen dem Kampfkommandanten des Volkssturms von Neckartenzlingen, dem 25-jährigen Leutnant Paul Schmid zu Ohren. Schmid hatte kurz zuvor den Widerstand der Neckartenzlinger Bevölkerung gegen seine “Verteidigungsmaßnahmen” zu spüren bekommen. Am nächsten Tag ließ er Spilger festnehmen und ins Rathaus bringen, wo er ihn und einige Zeugen verhörte.
Da Schmid unsicher war, was mit Spilger geschehen sollte, wandte er sich Rat suchend an Eugen Boger, den Kreisstabsführer des Volkssturms in Nürtingen. Diesem schilderte er den Fall in scharfen Worten und forderte unter anderem, dass an Spilger “ein Exempel statuiert” werden müsse. Boger verwies Schmid auf die Zuständigkeit des Standgerichts, das in Nürtingen eingerichtet werden sollte. An dieses richtete Schmid seine Anzeige. Am späten Nachmittag des 18. April 1945 brachten ein Gendarm und ein Volkssturmmann Spilger von Neckartenzlingen nach Nürtingen, mit einem Schild um den Hals mit der Aufschrift: “Ich bin ein übler Gerüchtemacher”, das der Neckartenzlinger Volkssturmführer Gotthilf Haug auf Befehl Schmids hatte malen müssen. Noch Jahrzehnte später erinnerten sich Zeitzeugen an den makabren Zug mit dem Gefangenen durch die Ortschaften. Gegen 18 Uhr wurde Spilger in das Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert. Später erklärte Boger die schnelle Verhaftung Spilgers damit, dass er ihn vor “fanatisierten Teilen der Bevölkerung” in Schutz nehmen wollte. Diese Erklärung ist an Zynismus kaum zu überbieten angesichts des Widerstands der Bevölkerung gegen die Verteidigung “bis zum letzten Blutstropfen”.
Der Fall Spilger gelangte zum kommissarischen Kreisleiter Heinrich Häberle, der faktisch der erste Mann der Partei im Kreis und die höchste Instanz für den Volkssturm war. Häberle las den an das Standgericht adressierten Tatbericht und entschied, ohne den Angeklagten gehört zu haben, ihn ohne Standgerichtsverfahren beseitigen zu lassen. Er beauftragte vermutlich am Vormittag des 19. April Emil Haderer, den Kreisgeschäftsführer des Volkssturms , die Tötung Spilgers auszuführen. Dieser gab dem Gruppenführer des Volkssturms Reinhold Schall den Befehl, Spilger nach Neuffen zu bringen und zu beseitigen. Schall verlangte von Haderer, ihm den Befehl schriftlich auszuhändigen, was Haderer aber verweigerte. In Neuffen ließ Schall Spilger in die Arrestzelle des Rathauses sperren und nach Gustav Dietz, dem Leiter des örtlichen Pionierzugs suchen. Schall gab den Befehl, Spilger zu töten, an Dietz weiter. Dieser hatte jedoch Bedenken und rief gegen 22 Uhr bei Haderer in der Kreisleitung an. Nach Rücksprache mit Häberle erklärte Haderer, der Befehl müsse unter allen Umständen ausgeführt werden.
Außerdem schickte er den Kammerverwalter des Volkssturm Karl Schieß mit seinem Motorrad nach Neuffen, um Dietz den Erschießungsbefehl einzuschärfen und nach vollbrachter Tat Vollzugsmeldung zu erstatten. Schieß traf Dietz in der Gastwirtschaft “Scharfes Eck “und schärfte ihm den Tötungsbefehl nochmals ein und verließ mit ihm gegen 23 Uhr die Wirtschaft um Spilger abzuholen. Am 20. April 1954 um 5 Uhr morgens kamen die beiden in angetrunkenem Zustand wieder in der Wirtschaft an. Schieß fuhr dann weiter nach Nürtingen, um, wie ihm von Haderer aufgetragen wurde, dem kommissarischen Kreisleiter Häberle die Erschießung Spilgers zu melden. Haderer hatte sich inzwischen abgesetzt.
Von den Richtern in mehreren Prozessen nach 1945 konnte nicht geklärt werden, ob Schieß oder Dietz die tödlichen Schüsse auf Spilger abgegeben hatte. Beide leugneten die Tat, es gab aber Zeugen, die aussagten, dass beide nach der Tat bekannt hätten, dass sie “einen umlegen” mussten.
Elise Spilger kehrte Mitte Juni in ihre alte Wohnung nach Zuffenhausen zurück. Dort erfuhr sie, dass ihr Mann kurz vor dem Einmarsch der Franzosen wegen politischer Äußerungen verhaftet und nach Nürtingen gebracht worden war. Zunächst kam sie mit ihren Nachforschungen nicht weiter. Deshalb wandte sie sich mit einer Vermisstenanzeige an die Polizei in Zuffenhausen und drückte ihre Befürchtung aus, dass ihr Mann nach seiner Verhaftung umgebracht worden sei. Die Suche der Polizei führte am 3. Dezember 1945 zu einer unbekannten Leiche, die im Mai 45 in der Nähe eines Steinbruchs bei Neuffen gefunden worden war. Für Elise Spilger wurde es bald zur traurigen Gewissheit, dass der Tote ihr Mann war, weil sie die Kleider der stark verwesten Leiche erkannte. Sein Todesdatum wurde auf den 19.4.45 festgesetzt.
Die Mörder von Eugen Spilger wurden nach 45 vor Gericht gestellt. Nach einer Reihe von Verfahren wurde Eugen Boger freigesprochen, Gustav Dietz zu 1 ½ Jahren, Heinrich Häberle zu 4 Jahren, Emil Haderer zu 3 Jahren, Karl Schall zu 1 ½ Jahren Gefängnis verurteilt. Gegen Reinhold Schieß wurde das Verfahren eingestellt. So billig kamen die Täter nach 1945 davon für einen Mord, der selbst nach NS-Recht ungesetzlich war. Die Witwe Elise Spilger und ihr Sohn Eugen mussten mit einer geringen Rente auskommen. Ihre Schadenersatzklage gegen die Täter wurde abgelehnt.
Der Stolperstein für Eugen Spilger wurde am 10. November 2006 verlegt.
Die Inschrift lautet:
HIER WOHNTE
EUGEN SPILGER
JG. 1910
ERSCHOSSEN 19.4.1945 IN
NEUFFEN
‚VOLKSVERRÄTER‘
Text u. Recherche: Inge Möller, Initiative Stolpersteine Zuffenhausen
Quellen:
– Wiedergutmachungsakte im Staatsarchiv Ludwigsburg.
– Nürtinger Zeitung vom 16.4.05. Justiz und NS-Verbrechen Bd. 6, Amsterdam 1971.
– Inge Möller: Von Durchhaltefanatikern kurz vor Kriegsende erschossen, in: Hrsg.: Harald Stingele und Die Anstifter, Stuttgarter Stolpersteine, Markstein-Verlag, 2006.
– Video „Tage vor Kriegsende ermordet“, Anne von der Vring und Schüler/innen der Berta-von-Suttner-Schule, 2019.
Kontakt: Inge Möller