Gitla Skulska wurde 1876 in Machnowka in Russland geboren und heiratete 1899 Mania Leyb Scher. Dass Paar zog zunächst nach Dresden, wo 1901 ihr ältester Sohn Hans Sander geboren wurde. Nur wenige Jahre später kamen die Kinder Moritz (1904) und Samuel (1905) zur Welt.
Im Jahr 1906 kam die vierköpfige Familie dann nach Stuttgart. Als jüngstes Familienmitglied wurde dann 1908 Tochter Ida (Sonja) geboren.
Über den genauen Zeitpunkt der Eröffnung ihres Geschäftes in der Markthalle gehen die Quellenangeben auseinander. So gibt es Hinweise, sie habe ihren Markstand in der Markthalle bereits von Anfang an betrieben. Andere Quellen sprechen von Betrieb eines Gemüsestandes dort erst in den Zwanziger Jahren.
Im Entschädigungsverfahren nach dem Krieg gibt Cilly Wittendörfer, die Nichte von Mania Leyb Scher folgendes zu Protokoll:
Ich weiß, dass Frau Gitla Scher in der Markthalle in Stuttgart einen Verkaufsstand gehabt hat, nämlich in der Nähe des Eingangs von der Breunigerseite her. Ich könnte die Stelle des Standes heute noch genau zeigen. Was Frau Scher aus dieser Erwerbstätigkeit verdient hat, ist mir begreiflicherweise nicht genau bekannt. So viel weiß ich aber gewiss, dass sie und ihre Familie davon gelebt haben und zwar bestand diese Familie aus 4 Köpfen, nämlich dem Ehemann Manuel Scher, der nicht mehr arbeitsfähig war, dem lungenkranken Sohn Samuel Scher und der Tochter Ida Scher. Die Familie lebte in ordentlichen Verhältnissen, es ging keineswegs ärmlich bei ihnen zu.
Dies änderte sich schlagartig nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sehr bald danach musste Gitla an ihrem Stand ein Schild mit der Aufschrift „Jude“ anbringen.
Wie sich einige innerhalb der Händlerschaft in der Markthalle die rassische Diskriminierung zum eigenen Vorteil zunutze gemacht haben, schildern die Angaben von Cilly Wittendörfer: Übrigens sind schon in den ersten Jahren nach der Machtübernahme 1933 Kunden weg geblieben, weil die Konkurrenz, die benachbarten Stände gegen meine Tante Gitla Scher gehetzt haben und darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie eine Jüdin sei. Dadurch hat sie schon seit 1933 einen empfindlichen Verdienstausfall erlitten.
1936 musste sie ihren Stand „aus rassischen Gründen“ schließen. Zuvor war schon ihr Sohn Samuel verhaftet worden. Damit verlor die Familie ihre Existenzgrundlage. Der Schließung des Marktstandes und der Verhaftung von Samuel ging folgende im NS-Kurier vom 23.8.1935 in Seite 3 veröffentlichte anonyme Anzeige voraus
“Jüdische Kupplerin und Händlerin aus der Markthalle entfernt –
Die Jüdin (nämlich Gitla Scher) hat sich nämlich nicht gescheut, das Konkubinat, das ihr Sohn, ein staatenloser Ostjude in ihrer Wohnung mit seiner arischen Freundin führte, bis in die letzte Zeit zu dulden. Jahrelang hat sie das schamlose und rassenschänderische Treiben ihres Sohnes unterstützt. Nach diesen Vorgängen war es für die Stadtverwaltung, auch mit Rücksicht auf die übrigen Standinhaber, eine selbstverständliche Pflicht, diese jüdische Händlerin aus der Markthalle zu entfernen. …..
Im Jahr 1938 starb dann ihr Ehemann.
In der späteren Auseinandersetzung in Entschädigungsverfahren widerspricht Cilly Wittendörfer entschieden der Darstellung des Stuttgarter Marktamtes, Gitla sei ausgewandert:
Wenn ihnen das Marktamt geschrieben hat, meine Tante Gitla Scher sei etwa 1937 oder 1938 zu ihrem verheirateten Sohn nach Amerika ausgewandert, so ist diese Angabe falsch. Meine Tante Gitla ist niemals nach Amerika gereist, auch nicht besuchsweise. Ausgewandert ist sie schon überhaupt nicht. Bekanntlich ist sie am 1.12.1941von Stuttgart nach Riga deportiert worden.
Die Wohnung in der Stöckachstraße 1 war nicht der letzte Wohnsitz von Gitla Scher und ihrer Tochter Ida. Sie wurden wie viele andere Juden aus ihren Wohnungen vertrieben und in sog. Judenhäusern untergebracht. Bis zu ihrer Deportation lebten sie in der Hauptstätterstraße 96.
Seit ihrer Deportation ist nichts mehr von Mutter und Tochter Scher bekannt. Beide wurden mit Kriegsende am 8. Mai 1945 für tot erklärt.
Text& Recherche: Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost
An Gitla Scher und an andere Verfolgte erinnerte ein StolperKunst-Stück “Schweigen ist Silber”, das im November 2018 anlässlich der Eröffnung des “Hotel Silber” im Theater tri-bühne Premiere hatte. Mehr hierzu finden Sie hier.