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Heinrich Richheimer, Leuschnerstraße 48 B

Heinrich Richheimer, auch Hayum genannt, wurde am 16. März 1861 in Gemmingen geboren. Seine Familie lässt sich über viele Generationen hinweg dort feststellen und war, wie viele andere badische Juden auch, in der Hoffnung durch eine andere Regierung endlich die volle bürgerliche Gleichberechtigung zu bekommen, an der Badischen Revolution 1848/49 beteiligt.

Für seine Ausbildung als Kaufmann kam Heinrich Richheimer bald nach Stuttgart, wo Verwandte lebten. Im Oktober 1895 heiratete er die 1875 geborene Stuttgarterin Rosa Hofheimer. Das Ehepaar Richheimer wohnte nach kurzem Wechsel in der Johannesstr. 28 (heute Hotel Sautter) und zog 1906 schließlich in das Haus Kasernenstr. 48 B, heute Leuschnerstraße. Zwei Kinder kamen zur Welt, Tochter Alice 1896 und Sohn Emil 1912. Alice Richheimer heiratete 1917 den Schweizer Staatsbürger Erich Burgheimer. Mit ihm und ihrer Tochter zog sie in den 1920er Jahren nach Zürich in die Schweiz.

Im Jahr 1895 lässt sich Heinrich Richheimer erstmals als Fabrikant von Lederwaren und Reiseartikel nachweisen. 1897 nahm er seinen Schwager Richard Fleursheimer, an den ein Stolperstein in der Breitscheidstr. 49 erinnert, als Teilhaber in die Firma auf. Zwischen 1917 und 1924 trat an seine Stelle Schwiegersohn Erich Burgheimer. Die Firma hatte ihren Sitz ursprünglich in der Gutenbergstr. 20, dann im Hinterhaus Senefelderstr. 61 (Olgäle-Areal) und später in 68 B. Im Ersten Weltkrieg nannte sich die Firma „Militäreffekten- und Lederwarenfabrik”. Wieder als „Lederwaren- und Reiseartikelfabrik” war sie dann in der Ludwigstr. 47.

Aus Rationalisierungsgründen stellte Heinrich Richheimer 1928 die Produktion ein und gab die Firma auf. Er übernahm jetzt sehr erfolgreich Vertretungen für Koffer, Aktentaschen und Einkaufstaschen in Süddeutschland, später auch in der Schweiz. Die Lederwarenfabrik Friedrich Tholl aus Mühlheim berichtet beispielsweise, dass er von insgesamt zehn Vertreterbezirken der Firma die höchsten Umsätze erzielte.

Sohn Emil Richheimer hatte eine Banklehre gemacht und dann bei Salamander gearbeitet, bis man ihm kündigte, weil junge jüdische Mitarbeiter nicht mehr für leitende Positionen ausgebildet werden sollten. Er half deshalb, was für später ohnehin geplant war, seinem Vater und übernahm auch eigene Vertretungen in Italien, wohin er 1934, nicht zuletzt auf Druck seines Vaters, emigrierte.

Emil Richheimer hatte kurz nach Hitlers Machtergreifung Eva Wendler kennen und lieben gelernt. Ihre Beziehung hielt auch den Nürnberger Rassegesetzen stand, die Verbindungen zwischen Juden und Nichtjuden unter Strafe stellten.

Eigentlich wollten beide in Italien heiraten, doch dann übernahm im November 1938 dort Mussolini die deutschen Rassegesetze. Eine Heirat war nicht mehr möglich. Weil deutsche Firmen ihre jüdischen Vertreter nicht mehr weiter beschäftigten, wurde Emil Richheimer fast gleichzeitig die wirtschaftliche Grundlage entzogen. Außerdem hatte er als ausländischer Jude Italien 1939 zu verlassen. Er floh nach Frankreich, wo er in die Fremdenlegion eintrat und mit einer Ausländer-Arbeitskompanie nach Algerien kam. Als Deutschland nach der Invasion der Alliierten in Nordafrika Vichy Frankreich okkupierte, verließ Emil Richheimer mit vielen Kameraden 1942 die Fremdenlegion und trat dort in die britische Armee ein. Er kam dann zur Invasion nach Italien und erreichte bis Kriegsende die österreichische Grenze. Mit Eva Wendler blieb er über Alice Burgheimer in Zürich in Kontakt.

Heinrich Richheimer selbst hatte nie daran gedacht, Deutschland zu verlassen. Es war seine Heimat. Als deutscher Pazifist hatte er die Deutsche Friedensgesellschaft aktiv unterstützt. In der Familie ist überliefert ist, dass Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident, ein häufiger Gast war.

Durch Hitler wurde es für Heinrich Richheimer immer schwieriger, als Vertreter zu arbeiten. Seine Provisionen gingen zurück, er verlor die Vertretungen, dazu kam die Reichspogromnacht mit ihren Folgen. Große Sorge bereitete ihm seine schwer an Diabetes erkrankte Frau Rosa, die an Sylvester 1938 verstarb.

Glücklicherweise waren er und seine Frau nie allein, denn nach der Emigration von Emil kümmerten sich Eva Wendler und ihre Mutter Hedwig und die beiden. Sie halfen Heinrich Richheimer auch, soweit dies ihnen möglich war, als er im Frühjahr 1940 in das jüdische Altersheim in der Heidehofstraße und von dort im Februar 1942 zwangsweise nach Eschenau umziehen musste, wo er mehr schlecht als recht im Schloss untergebracht war.

Als Eva Wendler und ihre Mutter erfuhren, dass Heinrich Richheimer in den Osten abreisen musste, fuhren beide am 17. August 1942 nach Eschenau und halfen dem 81-Jährigen beim Packen der wenigen Dinge, die er mitnehmen durfte. Gegen halb fünf Uhr wollten sie zum Bahnhof, um nach Stuttgart zurückzufahren, wurden aber am Schlosstor von einem Polizisten abgefangen, und angeblich, weil sie einige Unterlagen von Heinrich Richheimer für seine Tochter Alice sowie etwas Wäsche mitgenommen hatten, aufs Rathaus gebracht, wo dieser sie wüst beleidigte. Der Bürgermeister von Eschenau benahm sich zwar korrekt, ermöglichte ihnen, im Gasthaus zu übernachten, doch helfen konnte er nicht.

Die beiden Frauen wurden am nächsten Morgen von einem Gestapo-Beamten abgeholt und mit dem Auto nach Heilbronn ins Gefängnis gebracht, wo sie verhört und eingesperrt wurden. Eva Wendler bat einen ehemaligen Lehrer, der das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP hatte und ein persönlicher Freund Hitlers war, um Hilfe. Der antwortete jedoch, dass er nicht verstehen könne, wie man nach neun Jahren nationalsozialistischer Regierung noch Kontakt mit Juden haben kann, und erinnerte sie daran, dass sie schon in der Schule steten passiven Widerstand geleistet habe, wenn es um das Lesen von nationalsozialistischer Literatur ging. Ein Brief an die Stuttgarter Gestapo, in dem sie wenigstens um die Entlassung ihrer Mutter bat, deren Gesundheitszustand schlecht war, führte nach drei Wochen zur Verlegung der beiden Frauen nach Stuttgart in das Gefängnis in der Büchsenstraße. „Die Stuttgarter Gefängniszeit war besonders schlimm wegen der Wanzen und Läuse und der Gesellschaft von Diebinnen und Dirnen.“ Eva Wendler und ihre Mutter wurden erst nach insgesamt acht Wochen entlassen.

Heinrich Richheimer war mittlerweile am 22. August 1942 von Stuttgart aus nach Theresienstadt deportiert worden, wo sein Leben wohl am 25. November 1942 endete.

Im Juni 1945 konnte Eva Wendler mit Sondergenehmigung der französischen Besatzungskräfte von Konstanz aus in die Schweiz einreisen, um über Alice Burgheimer Kontakt mit ihrem Bräutigam Emil Richheimer in Italien aufzunehmen. Mit einer speziellen Erlaubnis seines kommandierenden Offiziers, denn britischen Soldaten war die Ehe mit einer „feindlichen” Ausländerin untersagt, konnten sie endlich im März 1946 heiraten. Sie bekamen zwei Söhne, von denen einer den Namen „Heinrich Richheimer” weiterführt.

Der Stolperstein trägt den Namen von Heinrich Richheimer (1861-1942), der nur wegen seiner jüdischen Religion deportiert wurde und unter schrecklichen Verhältnissen sein Leben verlor. Er erinnert aber auch an Rosa Richheimer, die wie ihr Mann Demütigungen der Nazis ertragen musste, sowie mit großem Respekt an Emil Richheimer, der mutig den Widrigkeiten der Zeit trotzte, und an seine Frau Eva, die Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit zeigte. – Beider Liebe war so stark, dass sie einen größenwahnsinnigen Diktator aushielt.

Der Stolperstein wurde am 29. September 2008 verlegt.

Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West
Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg